Zu Hause in Almanya
beherrschen, obwohl man nicht aus einer deutschen Familie stammt. Und diese doppelte Leistung, auch wenn sie nicht perfekt ist, bleibt nicht bei der Sprache stehen, sondern sie geht in anderen Lebensbereichen weiter.
Wenn man zum Beispiel nur mit der deutschen Kultur groß wird, dann kommt einem womöglich die türkische Musik leierig vor, man empfindet sie als disharmonisch. Kennt man aber auch die türkische Kultur, dann hört man die Harmonie in der Musik, sie erscheint einem genauso normal wie jede Musik, ganz gleich, ob man sie nun mag oder nicht. Man kann beide genießen, wenn man will. Man fühlt den Rhythmus und die Melodie von beiden, kann zu beiden und mit beiden Arten tanzen – je nachdem, wie gut man als Tänzer ist.
Man kann über Witze lachen, die manche Deutsche nicht verstehen, und man kann über Witze lachen, die manche Türken nicht verstehen. Und manchmal auch noch über viele andere Dinge. Man hat an der Wand nicht nur all die Poster, die auch deutsche Teenager haben, sondern auch noch Poster, die Teenager in der Türkei haben.
Zum Frühstück gibt es Nutella ebenso wie Oliven und Schafskäse – von der Frage, ob man nicht Bauchschmerzen bekommt, wenn man zu viel von dieser Mischung isst, mal ganz abgesehen. Man streicht türkische Gemüsepaste auf deutsches Vollkornbrot, trinkt Tee aus geschwungenen, türkischen Gläsern und isst Schwarzwälder Kirschtorte dazu. Das alles und noch viel mehr geht wie von selbst und macht Spaß. Warum soll man nur das eine oder nur das andere machen müssen, sich entscheiden müssen für Dinge, die auch gut zusammen gehen, wenn man will?
Vielleicht ist die Bezeichnung »zwischen den Stühlen« eine Idee von Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass man auch mit zwei Kulturen tanzen kann.
Doch man kann es, und so ähnlich geht es türkischen Kindern und Jugendlichen und anderen, deren Familien zugewandert sind, oft auch mit ihrer Herkunft. Sie lernen schon ganz früh, dass es immer mindestens zwei Arten geben kann, die Dinge zu sehen und zu tun, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt und im Idealfall auch, dass das etwas Gutes und Schönes ist. Deshalb können sie die Feste feiern, wie sie fallen, den Türken die Hand küssen und den Deutschen noch einen schönen Tag wünschen.
Die Mutter aus dem Dorf
Ich saß im Bus und fuhr gemütlich durch die Straßen einer Kleinstadt, von Haltestelle zu Haltestelle. Es war eine dieser Städte, die heutzutage immer leerer werden, weil es immer weniger Kinder in Deutschland gibt und weil die Erwachsenen wegziehen, um anderswo eine bessere Arbeit und ein schöneres Leben zu finden.
Während ich aus dem Fenster schaute auf die schnuckeligen, kleinen Häuser, in denen jeder für sich alleine lebt und versucht glücklich zu werden, setzte sich eine junge Frau neben mich. Zuerst sah ich sie nur flüchtig. Es war eine Türkin.
Sie muss Ende zwanzig gewesen sein, trug ein Kopftuch und einen langen Mantel, war sehr höflich und lächelte freundlich, als sie sich auf dem freien Sitz breitmachte. Sie hatte einen Kinderwagen dabei, in dem ein kleines Kind unbeirrt von allen Geräuschen schlummerte und zu dem sie alle paar Minuten hinüberschaute.
Nach ihrer Kleidung zu urteilen vermutete ich, dass sie nicht in Deutschland aufgewachsen war. Sie sah aus wie die jungen Frauen, die in den Dörfern der Türkei leben: der Mantel aus einfachem Stoff, das Tuch knallbunt und unter dem Kinn gebunden, seitlich befestigt mit einer Nadel. Die Schuhe schlicht und einfach, die Hände rau, das Gesicht etwas trocken. Keine Schminke, kein Schmuck, und etwas füllig war sie, das konnte man erkennen.
Immer, wenn unsere Blicke sich trafen, sah ich, dass sie lächelte, und man merkte, dass sie sich gerne unterhalten wollte. So wie es oft auch bei älteren deutschen Frauen ist, die einsam sind und niemand zum Reden haben. Aber bei dieser Frau war es nicht Einsamkeit, es war übersprudelnde Energie, die sie trieb.
Ich wollte mich gerne auf ein Gespräch mit ihr einlassen, denn sie schien nett zu sein, und man erlebt manchmal Überraschungen, wenn man sich mit fremden Menschen unterhält. Schließlich lächelte sie mich an und ich lächelte zurück und dann sagte sie: »Wohin fährst Du?«
»Ich fahre nach Süd«, sagte ich und meinte den Stadtteil.
»Oh, da fahre ich auch hin«, strahlte sie, und so kamen wir ins Gespräch.
Auch ihre Sprache war einfach, sie hatte einen dörflichen Akzent und sprach kein Hochtürkisch. Zuerst redeten
Weitere Kostenlose Bücher