Zu keinem ein Wort
Kinder nicht mehr als Ausländer zu betrachten seien. Die Erwachsenen und wir Kinder blieben im Heim und hielten gespannt den Atem an, ob ihr Vorhaben gelingen würde.
Und tatsächlich: Am späten Nachmittag führten sie und Onkel Isidor den Zug all unserer polnischen Freundinnen und Freunde an, die in Zweierreihen, sichtlich erschöpft zwar, aber doch glücklich, hinter ihnen her durchs Tor in den Hof gestolpert kamen. Ich erkannte am Ende der Gruppe sofort Edith, lief auf sie zu und weinte schon wieder. Aber dieses Mal aus Freude.
»Ich habe einen Riesenhunger!«, sagte Edith als Erstes. »Wir haben den ganzen Tag nichts zu essen bekommen.«
Ich kramte ein Bonbon hervor und gab es ihr zusammen mit dem noch immer feuchten Taschentuch. »Das habe ich für dich aufgehoben!«
Einige Tage vergingen, in denen wir versuchten, zu einem einigermaÃen normalen Alltag zurückzukehren. Tante Ella war für kurze Zeit verreist und Tante Rosa, die sonst meist bei den Jungen war, half bei uns aus.
Eines Abends saÃen wir noch zum Singen beisammen. Ich war gerade an der Reihe, als die Zimmertür aufflog und Tante Rosa rief: »Kinder, schnell alle ins Bett! In Paris ist jemand in der deutschen Botschaft erschossen worden. Ein junger Jude hatâs getan... das wird Ãrger geben!«
So ein Mist, dachte ich als Erstes. Immer wenn ich gerade mal ein bisschen froh bin, passiert wieder irgendetwas in der Welt.
Wenig später lagen wir in den Betten, aber keine von uns konnte schlafen. Wir hatten Angst, was nun kommen würde, und flüsterten deshalb aufgeregt miteinander: »Warum hat der Junge das getan?« - »Ob er noch lebt?« - »Aber Paris ist doch weit weg, warum sollen wir hier in Frankfurt deshalb Ãrger bekommen?« - »Aber wenn Tante Rosa es doch gesagt hat! Die kennt sich gut aus in der Politik.«
Drei Tage später ging es los. In den frühen Morgenstunden des 10. November - drauÃen war es noch stockdunkel - wurden wir durch einen ungewöhnlichen Lärm von drauÃen aufgeweckt. Männerstimmen grölten, kamen näher, zogen dann aber zunächst am Heim vorbei zur Synagoge Friedberger Anlage. Da öffnete sich auch schon die Tür und Tante Rosa, die bereits vollständig angekleidet war, deutete uns an, still zu bleiben und bloà kein Licht anzumachen. Wir lagen stumm in den Betten und starrten zu den hohen Fenstern, vor denen alle Vorhänge zugezogen waren.
»Was machen die Männer?«, schrie Mirjam plötzlich auf, die drei Betten weiter lag. Tante Rosa hielt ihr augenblicklich eine Hand vor den Mund. Zwei Mäd-chen
fingen vor Angst zu weinen an. »Es ist niemand im Haus«, versuchte Tante Rosa sie zu beruhigen. »Das ist alles nur drauÃen.«
Am 7. November 1938 schoss der siebzehnjährige Herschel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris auf den hohen deutschen Beamten Ernst vom Rath, um gegen die Deportation seiner Eltern und Geschwister aus Hannover nach Polen zu protestieren. Ernst vom Rath starb zwei Tage später. Die Nazis benutzten dieses Attentat als Vorwand für die Reichspogromnachtgegen die Juden in Deutschland vom 9./10. November 1938. Das Foto zeigt Herschel Grynszpan nach seiner Verhaftung am 7. November.
Dann hörten wir, wie bei uns unten im Hof ans Tor geklopft wurde. Nicht brutal, eher vorsichtig, aber doch unüberhörbar. »Bitte macht auf!«, rief eine ältere Frauenstimme. »Sie haben uns aus unserem Haus getrieben und meinen Mann verprügelt und mitgenommen... ich weià nicht, wohin... Bitte, macht auf!«
Tante Rosa zog einen Vorhang etwas zur Seite. Wir konnten trotz der Dunkelheit erkennen, wie Onkel Isidor über den Hof zum Tor eilte, den groÃen Eisenriegel anhob und das Tor einen Spalt breit öffnete. AuÃer der alten Frau strömten mindestens noch zehn weitere ver ängstigte Menschen herein, bevor Onkel Isidor das Tor wieder verriegeln konnte. Dieser Vorgang wiederholte sich noch mehrfach während der folgenden Stunden, bis schlieÃlich unser Waisenhaus überfüllt war, vor allem mit Frauen, Kindern und alten Leuten, die bei uns Schutz zu finden hofften. Selbst im Flur, auf Treppen und Gängen, standen und saÃen Menschen. Sie erzählten, dass junge Männer in SA-Uniform die Scheiben mehrerer jüdischer Geschäfte eingeschlagen hatten. Andere berichteten aufgeregt, dass man selbst in der Synagoge am Börneplatz
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