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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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»So etwas ist unglaublich.« Seine sonst immer so ordentlich gebundene Krawatte war verrutscht und Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
    Â»Onkel Isidor!«, rief einer der Jungen. »Du musst dich verstecken! Die holen alle Männer zuerst ab!«
    Wir hörten die Bande bereits im Stockwerk unter uns randalieren. Sie zogen von Zimmer zu Zimmer, rissen, wie ich später sah, die Schränke auf, warfen die Kleider auf den Boden, kippten Bücherregale um und zertrampelten sogar das Spielzeug der Kleinen. Sie kamen schnell näher. In dem Moment schlug Mutter die gestärkte lange Tischdecke hoch und winkte Onkel Isidor heran: »Kommen Sie, Herr Marx, Sie müssen sich verstecken! Wenn Ihnen etwas zustößt, sind wir alle verloren.«
    Er zögerte einen Augenblick. Die ganze Situation war ihm sichtlich unangenehm. Dann bückte er sich aber endlich doch, um etwas ungeschickt und ohne ein weiteres Wort unter den Tisch zu kriechen. Im allerletzten Moment ließ Mutter die Tischdecke wieder herunter und schob mehrere von uns Kindern davor. Da waren die Nazis auch schon auf dem Gang zum Speisesaal. Unwillkürlich hielt ich mich mit einer Hand am Tisch fest.
    Als sie in der Tür zum Saal standen, schauten sie sich zuerst um, als würden sie etwas ganz Bestimmtes suchen.
    Â»Wo ist euer Chef?«, brüllte einer.
    Ein anderer ergänzte: »Den Itzig bringen wir ins KZ!«

    Und ein dritter begann erneut: »Wo hat sich das feige Schwein versteckt?«
    Mutter trat mutig einen Schritt nach vorn und sagte: »Herr Marx hat heute Morgen das Haus verlassen.«
    Sie wussten offensichtlich nicht, ob sie ihr glauben sollten. Derjenige, der zuerst gesprochen hatte, schlug mit einem Knüppel gegen eine Glasscheibe des Geschirrschranks, die klirrend in tausend Stücke zersprang. »Wenn das nicht wahr ist, bist du auch dran!«
    Dann packten sie einen von den älteren Jungen am Hemd und zogen ihn ganz dicht zu sich heran. »Dann nehmen wir eben dich mit, Scheißkerl!«, schrien sie ihn an. Einer trat ihm mit dem Stiefel in den Bauch. Ein anderer riss ihn am Hemd wieder hoch. Dabei zerfetzte der Stoff und der Junge stand nun halb entblößt vor der Bande. Ich sah, wie sich seine Rippen vom schweren Atmen hoben und senkten. Schweiß stand ihm auf der Stirn, aber er heulte nicht und rief auch nicht um Hilfe.
    Als ihm nun einer der Kerle sogar ein Messer an den Hals setzte, griff Mutter erneut ein: »Lassen Sie den Jungen, das ist doch noch ein Kind!«
    Spöttisch rief der Mann mit dem Messer, ohne es von seinem Hals zu nehmen: »Wie alt bist du denn, Kleiner?«
    Â»Fünfzehn«, presste der Junge hervor.
    Da ließen sie von ihm ab. Mutter erklärte mir später, dass sie nur junge Männer ab sechzehn mitnehmen durften.
    Kaum hatten sie den Speisesaal wieder verlassen, als sich das Tischtuch neben mir bewegte und Onkel Isidor darunter hervorlugte. Er schaute ernst, aber Mutter und
wir anderen sahen uns erleichtert an. Selbst der Junge mit dem zerrissenen Hemd atmete auf und sagte mit verhaltener Stimme: »Onkel Isidor, bleib lieber unterm Tisch, bis sie wirklich weg sind!« Aber Onkel Isidor klopfte sein Jackett und seine Hosen ab und versuchte, seine Krawatte wieder zurechtzurücken. »Unglaublich«, stammelte er erneut.
    Wir hörten die Kerle nacheinander wieder nach unten poltern. Zum Glück legten sie bis zuletzt kein Feuer. Mutter lugte durch die Gardinen am Fenster und berichtete, wie sie unser Heim wieder verließen. Einige Angestellte und ein paar der älteren Jungen waren mitgenommen worden. Alle kehrten am nächsten Tag, wenn auch zum Teil übel zugerichtet, wieder zurück. 4
    Als endlich alle weg waren und wir das Tor im Hof so gut es ging repariert und wieder geschlossen hatten, begannen wir mit dem Aufräumen. Später berichtete mir Mutter, dass ein paar junge SA-Männer auch in ihr Privatzimmer gestürmt waren und dort das Foto meiner Eltern von 1922 neben ihrem Bett entdeckt hatten. Sie wollten wissen, wo ihr Mann war. Mutter hatte so abweisend wie möglich geantwortet: »Mein Mann ist schon seit sieben Jahren tot.« Wenig später zeigte sie mir die Liebesbriefe meines Vaters, die er alle mit ›In Liebe, dein Nazi‹ unterschrieben hatte. Und zerriss sie danach, damit sie nicht den wirklichen Nazis in die Hände fallen sollten.
    Im Wesentlichen hatten die überwiegend jugendlichen

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