Zu nah am Feuer: Roman (German Edition)
verstörender und viel zu real.
Am besten wäre es, Joe würde sich ihrer Führung anvertrauen, denn was sie miteinander hatten, war viel schöner als das, was die meisten Menschen überhaupt je erlebten.
Ein Blitz schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Kurz darauf durchzuckte ein weiterer Blitz den Himmel, ähnlich den Flammen, die in ihren Träumen und Wachstunden aufloderten, und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen.
Sie hatte sich mit Joe gestritten.
War die Treppe hinaufgerannt.
Hatte nach ihrem Vater geschrien.
Hatte seine Hilfeschreie gehört.
Hatte in der Tür gestanden, wie betäubt vom Rauch und von den Flammen …
Und sie hatte einen Schatten gesehen. Den Schatten einer anderen Person, als sie an dem Fenster direkt vor dem Erdgeschoss des Lagerhauses vorbeilief.
O Gott. Sie lenkte den Wagen auf den Standstreifen des Highways und legte den Kopf aufs Lenkrad; sie zitterte am ganzen Leib. War das eine echte Erinnerung gewesen? Mit klopfendem Herzen saß sie da und zermarterte sich den Kopf, aber es stellten sich keine weiteren Erinnerungen ein. Nach einer langen Weile hob sie den Kopf.
Es hatte zu regnen aufgehört. Erst in einer Stunde würde es dunkel werden. Nervös und ängstlich fuhr sie auf den Serpentinenstraßen in die Berge zu der Laufstrecke, die sie beruhigen würde.
Weil sie ihre Laufschuhe immer hinten im Auto aufbewahrte, konnte sie gleich loslaufen. Sie lief mehrere Meilen durch den dichten Nebel, dann setzte sie sich auf einen Stein bei einem Felsvorsprung, von dem aus man bei klarem Himmel auf einen großen Teil von San Diego County und auf die grünen Hügel entlang des azurblauen Meeres hinabsehen konnte. Gott, wie sie den Geruch nach einem Regenschauer liebte. Der feuchte Kies, die blühende Natur, die Vögel, die einander fröhlich zuzwitscherten. Allmählich wurde ihr Puls langsamer, ihre Gedanken beruhigten sich.
Wenn sie von hier fortging, würden die Erinnerungen verblassen, und sie wäre wieder allein, das wusste sie.
Aber ihre Mutter brauchte sie. Und vielleicht brauchte sie auch ihre Familie. Sie stand auf und joggte zurück. Der Boden quatschte unter ihren Schuhen. Von den Bäumen tropfte es auf ihre feuchte, erhitzte Haut, was sie beruhigte, besänftigte. Schließlich gelangte sie bei ihrem Wagen an. Sie rutschte auf den Fahrersitz und nahm ihr Handy, in der lächerlichen Hoffnung, dass eine Nachricht von Joe darauf wäre.
Da war eine Nachricht – aber nicht von Joe. Das ID-Display zeigte keine Nummer an. Die SMS lautet kurz und knapp.
Verschwinde. Bitte verschwinde .
»Gar nicht witzig, Diana«, murmelte sie. »Oder Madeline. Oder …«
Oder wer? Wer sonst würde so etwas tun? Sie hätte die Nachricht fast gelöscht, besann sich aber im letzten Moment eines Besseren und legte das Handy auf den Rücksitz.
Nein, sie würde nicht verschwinden, vielen Dank!
Stattdessen fuhr sie los, ohne ein besonderes Ziel anzusteuern, und versuchte, alle Gedanken auszuschalten. Das war ihr neuer Vorsatz für den restlichen Abend: denken verboten.
Schließlich kam sie in Ocean Beach an, wo es wieder regnete. Oder immer noch. Geradeaus, auf der rechten Seite, lag »Tooley’s Bar«, das Schild mit der pinkfarbenen Neonpalme blinkte im Sprühregen. Auf dem Parkplatz stand Chloes verbeulter Toyota, aus einem Impuls heraus parkte Summer direkt daneben; sie zog das feuchte Sommerkleid wieder über das Tank Top und die Bikershorts und brachte ihre Frisur kurz in Form; das musste genügen. Durch den Nieselregen lief sie zu der Bar hinüber. Fast alles darin war aus altem Teakholz, Fischerkörbe hingen von der Decke, auf dem Boden lagen Sand und Erdnüsse. Der Raum war groß und geräumig und ziemlich leer, was Summer erleichterte; sie machte einige Schritte.
Stella und Gregg standen am Rand der Tanzfläche, hatten die Arme umeinandergelegt. »Was machst du denn hier?«, sagte Stella, deren Lächeln nicht ganz so freundlich wirkte wie sonst. Summer wusste, dass die beiden wegen des Brandes vernommen worden waren, vor allem zu der Frage, wie Summer den Fire Marshals erzählt hatte, warum Gregg, kurz bevor er den Laden verließ, in Keller gewesen war und dass er angeboten hatte, für sie abzuschließen. Summer tat das leid, aber sie hatte einfach ehrlich antworten müssen.
»Normalerweise kommst du nicht hierher«, sagte Gregg.
»Ich brauche nur etwas Gesellschaft.« Summer lächelte in der Hoffnung, dass das Gespräch freundlicher würde; aber keiner der beiden erwiderte
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