Zu seinen Füßen Cordoba: Historischer Roman (German Edition)
Verstandeskraft.
»Wer bist du?« fragte Abu Hafs.
»Ein Sohn des Weges«, antwortete der Zerlumpte bescheiden.
»Da bist du wohl schon lange auf Reisen?«
»Ja.«
»Kommst du übers Meer?«
»Ja.«
»Willst wohl heute noch weitergehn?«
»Nein.«
Mehr als ja und nein war nicht aus ihm herauszubringen. Muhammad und Welid kamen hinzugelaufen. Neugierig musterten sie den Seltsamen, tasteten ihm mit Blicken seine Geheimnisse ab. Ein Pilger, der auf der Bückreise vom Grab des Propheten von Räubern überfallen worden ist? Ein Kaufmann, der Schiffbruch erlitten hat? Ein Sklave, der seinem Herrn entflohen ist? Ein Verbrecher auf der Flucht vor dem Galgen? O wie viele Möglichkeiten des Erlebens und Erleidens hält doch das Schicksal für die Menschen bereit!
Abu Hafs aber merkte, dass der vor ihm Stehende zu Tode erschöpft war. »Mach ihm ein Lager zurecht, Besbasa«, sagte er. Und, zum Bettler gewandt: »Schlaf dich aus von deiner langen Reise, du Sohn des Weges.«
Drei Tage blieb der Bettler im Hause von Abu Hafs, und niemand bedrängte ihn. Er nahm teil an den Mahlzeiten und den Gebetsübungen des Gesindes, seine Stimme, die erst nur ganz gedämpft geklungen hatte, übertönte schließlich die aller anderen. Am Morgen des vierten Tages ging der Bettler zu Abu Hafs. »Ich danke dir für Speise, Trank und Herberge«, sagte er. »Ich bin nun so gestärkt, dass ich meinen Weg fortsetzen kann.«
Abu Hafs ließ einen Leibrock aus seinem Kleidervorrat holen und reichte ihn dem Abschiednehmenden. »Zieh deine Lumpen aus«, sagte er, »du bist nicht immer in ihnen gegangen, das sieht man dir an.« »Da hast du recht, Herr«, antwortete der Bettler, griff jedoch nicht nach dem Geschenk. »Aber man soll dem Verlorenen nicht nachtrauern. Von Wert ist nur das Unverlierbare.«
Diese Worte machten den Hausherrn aufhorchen. Wer war nur der seltsame Mensch?
»Könntest du nicht«, fragte er, »noch ein paar Tage hierbleiben? Ich habe einige Geschäfte anzuwickeln, die mich über Land führen, und von meinen Sklaven vermag keiner, meinen Sohn und seinen Milchbruder im Koranhersagen abzuhören. Meine Gattin aber ist unpässlich.« Und als der Gefragte nicht gleich antwortete, setzte er hinzu: »Oder verstehst auch du nicht zu lesen und zu schreiben?«
Da lächelte der Sohn des Weges in einer unnachahmlichen Weise. »Ich habe zu Füßen des zweiten Meisters gesessen«, antwortete er.
»Meinst du damit den Scheich aus Farab, Abu Naßr, der in Halab lehrt? Den habe ich rühmen hören, er führe das Leben eines Sufi - ein reines, fleckenloses Leben.«
»Ja, al-Farabi war mein Lehrer. Mit ihm bin ich von Halab nach Damaskus gereist. Dort haben wir ihn begraben.«
Da wusste Abu Hafs, dass Allah ihm diesen Mann ins Haus geschickt hatte, damit die Knaben nicht ohne Unterricht blieben, wenn er auf die Wallfahrt ging.
Gleich die erste Lektion, die Muhammad und Welid von ihrem neuen Lehrer erhielten, beeindruckte sie tief. Jachja ben Jezid - so ließ er sich nennen - hatte auf Wunsch Abu Hafs’ ein Bad genommen, sich Haare und Bart mit Ambra durchduftet und war kaum wiederzuerkennen in dem guten Gewand, das ihm wie angegossen am Leibe saß. Die Knaben musterten ihn scheu. Seine Stirnhaare waren noch tiefschwarz, Bart und Schläfenlocken aber schon etwas angegraut, Gestalt und Wangen hager, die Nase schwang sich in kühnem Bogen aus dem Gesicht, die Augen glänzten in dunklem Feuer.
»So habe ich mir einen Scheich vorgestellt«, flüsterte Welid.
»Er muss ein echter Araber sein«, gab Muhammad zurück, wagte aber nicht, Jachja ben Jezid nach seiner Abstammung zu fragen.
Sie waren bei der Wiederholung der Sure »Das Gericht« angelangt, und der Lehrer trug sie erst selber vor, ehe er sie die Schüler abfragte. Aber wie er sie vortrug! Nicht etwa eintönig leiernd, wie der Vorbeter in der Moschee, und auch nicht mit so lauter, jedes Wort wie ein Hornsignal herausstoßender Stimme, wie es Abu Hafs’ Art war, sondern in abwechslungsreicher, frei schwingender Melodie, leiser die erzählenden Teile, eindringlicher die ermahnenden.
»Am Tage des Gerichts,
wenn die Menschen ein Nichts
sind, gleich Motten, die verstreut am Boden liegen,
und die Berge zittern und sich biegen
wie Wolle, durch die der Kamm fährt,
will ich eure Taten wiegen.
Und wenn deine Schale sinkt, darfst du ins Paradies eingehn,
doch wenn deine Schale steigt, ist es um dich geschehn.
Kannst du ermessen die Qual: Lodernde Flammen
schlagen über dir
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