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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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es von Dauer und alles wieder gut ist, bleibt etwas übrig. Ein Verlust, der diesen Gewinn trübt. Ein Verlust, den er, selbst wenn er die Kraft dazu hätte, sich nur ungern eingestehen würde.
    Es ist inzwischen zu dunkel und der Schnee fällt zu dicht, um mehr zu erkennen als nur die vordersten Bäume. Er ist schon öfter um diese Zeit, wenn es im Winter früh dunkel wird, da drin gewesen. Aber jetzt schaut er aufmerksam hin, er nimmt etwas anderes am Wald wahr, das ihm bisher entgangen ist. Wie er in sich verknäuelt ist, wie dicht und geheimnisvoll. Es ist nicht einfach ein Baum neben dem anderen, es sind alle Bäume zusammen, die sich gegenseitig helfen und unterstützen und sich zu einem Geschöpf verweben. Eine Verwandlung, hinter seinem Rücken.
    Es gibt noch einen Namen für den Wald, und dieser Name pirscht sich durch seinen Kopf, hierhin und dorthin, wo er ihn fast greifen kann. Aber nicht ganz. Es ist ein gewählteres Wort, etwas bedrohlich, aber gleichgültig.
    »Ich habe die Axt liegen lassen«, sagt er mechanisch. »Die Säge auch.«
    »Na wenn schon. Wir werden jemanden finden, der sie holt.«
    »Und da ist auch noch das Auto. Steigst du aus und nimmst das Auto und lässt mich den Lieferwagen fahren?«
    »Bist du wahnsinnig?«
    Ihre Stimme ist geistesabwesend, denn sie ist gerade dabei, den Lieferwagen rückwärts in den Wendekreis zu lavieren. Langsam, aber nicht zu langsam rumpelt der Wagen durch die Furchen, hält aber die Spur. Roy ist es nicht gewohnt, aus diesem Winkel in den Rückspiegel zu schauen, also dreht er das Fenster herunter, steckt den Kopf hinaus und bekommt Schnee ins Gesicht. Er tut das nicht nur, um zu sehen, wie sie klarkommt, sondern auch, um ein wenig die warme Benommenheit, die ihn überkommt, zu vertreiben.
    »Sachte«, sagt er. »Ja, so. Sachte. Gut so. Das machst du gut.«
    Währenddessen sagt sie etwas von Krankenhaus.
    »… damit die sich das anschauen. Das Wichtigste zuerst.«
    Seines Wissens ist sie noch nie mit dem Lieferwagen gefahren.
    Beachtlich, wie gut sie das schafft.
    Forst
. Das ist das Wort. Überhaupt kein ungewöhnliches Wort, aber eins, das er wahrscheinlich noch nie benutzt hat. Es hat eine Förmlichkeit, vor der er normalerweise zurückschreckt.
    »Der verlassene Forst«, sagt er, als werde damit ein Deckel zugeschraubt.

Zu viel Glück
    Viele, die Mathematik nicht näher kennen, verwechseln sie mit Arithmetik und halten sie für eine trockene und langweilige Wissenschaft. In Wirklichkeit verlangt diese Wissenschaft die größte Einbildungskraft.
    SOFIA KOWALEWSKAJA

I
    Am ersten Januar des Jahres 1891 gehen eine kleine Frau und ein großer Mann über den Alten Friedhof in Genua. Beide sind um die vierzig Jahre alt. Die Frau hat einen kindlich großen Kopf, mit einem Wust dunkler Locken, sie schaut angespannt drein, fast ein wenig flehentlich. Ihr Gesicht zeigt die ersten Spuren des Alters. Der Mann ist riesig. Er wiegt zweieinhalb Zentner, verteilt über eine ungeheure Gestalt, und da er Russe ist, wird er oft als Bär bezeichnet, auch als Kosak. Im Augenblick beugt er sich über Grabsteine und schreibt etwas in sein Notizbuch, sammelt Inschriften und rätselt über Abkürzungen, die ihm nicht sofort klar sind, obwohl er Russisch, Französisch, Englisch und Italienisch spricht und sowohl klassisches als auch mittelalterliches Latein einigermaßen beherrscht. Sein Wissen ist so umfangreich wie sein Körper, und obwohl er auf Staatsrecht spezialisiert ist, kann er Vorträge über den Machtzuwachs politischer Institutionen in Amerika halten, über die Besonderheiten der Gesellschaft in Russland und im Westen und über die Gesetze und Praktiken antiker Weltreiche. Aber er ist kein Pedant. Er ist witzig und allgemein beliebt, in verschiedenen Gesellschaftsschichten zu Hause und kann sich ein Leben im Wohlstand leisten, dank seiner Besitztümer in der Nähe von Charkow. Eine Professur in Russland wird ihm jedoch verwehrt, weil er ein Liberaler ist.
    Sein Name passt zu ihm. Maxim. Maxim Maximowitsch Kowalewski.
    Die Frau bei ihm ist auch eine Kowalewski. Sie war mit einem entfernten Cousin von ihm verheiratet, ist aber jetzt Witwe.
    Sie spricht schelmisch mit ihm.
    »Du weißt, dass einer von uns sterben wird«, sagt sie. »Einer von uns wird in diesem Jahr sterben.«
    Er hört nur mit halbem Ohr zu und fragt: »Wieso das?«
    »Weil wir am ersten Tag des Neuen Jahres auf einem Friedhof spazieren gehen.«
    »Ah, ja.«
    »Es gibt immer noch ein paar Dinge, die

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