Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
du nicht weißt«, sagt sie auf ihre kecke, aber fürsorgliche Art. »Ich wusste das schon, bevor ich acht Jahre alt war.«
»Mädchen verbringen mehr Zeit bei den Küchenmägden, Jungen dagegen mehr in den Pferdeställen – vermutlich deshalb.«
»Jungen hören in den Pferdeställen nichts vom Tod?«
»Nicht so viel. Im Mittelpunkt stehen andere Dinge.«
Es fällt Schnee an dem Tag, aber er ist weich. Die beiden hinterlassen auf ihrem Weg geschmolzene schwarze Fußabdrücke.
Sie ist ihm zum ersten Mal im Jahre 1888 begegnet. Er war nach Stockholm gekommen, um beratend an der Gründung einer Hochschule für Gesellschaftswissenschaften mitzuwirken. Ihre gemeinsame Staatsangehörigkeit, die bis zum gemeinsamen Familiennamen reichte, hätte sie zusammengeführt, auch wenn keine besondere Sympathie im Spiel gewesen wäre. Denn es hätte ihr obgelegen, einen liberalen Gesinnungsgenossen, der zu Hause nicht mehr willkommen war, einzuladen und zu betreuen.
Aber das erwies sich überhaupt nicht als lästige Pflicht. Beide flogen aufeinander zu, als seien sie lang vermisste Verwandte. Eine Flut von Scherzen und Fragen folgte, ein unmittelbares Einvernehmen, ein reicher Schwall Russisch, als seien die Sprachen Westeuropas nur dürftige Käfige gewesen, in die sie zu lange gepfercht waren, oder armseliger Ersatz für die wahre menschliche Sprache. Auch ihr Benehmen setzte sich bald über Stockholmer Anstandsregeln hinweg. Er blieb bis spät nachts in ihrer Wohnung. Sie ging allein in sein Hotel, um dort mit ihm zu dinieren. Er verletzte sich bei einem Missgeschick auf dem Eis am Bein, sie half ihm dabei, die Wunde abzutupfen und zu verbinden, und schlimmer noch, sie erzählte anderen davon. So sicher war sie sich ihrer und vor allem seiner. In einem Brief an einen Freund beschrieb sie ihn mit Anleihen bei de Musset.
Er ist stets frohgemut, dabei recht grüblerisch …
Unangenehmer Nachbar, ausgezeichneter Kamerad …
Außerordentlich leichtsinnig, und doch sehr betroffen …
Empörend naiv, trotzdem sehr blasiert …
Schrecklich aufrichtig, und dabei sehr verschlagen.
Und am Schluss schrieb sie: »Obendrein ist er ein echter Russe.«
Den dicken Maxim nannte sie ihn.
»Ich war noch nie so versucht, Liebesromanzen zu schreiben, wie mit dem dicken Maxim.«
Und: »Er nimmt zu viel Platz ein, auf dem Diwan und auch in den Gedanken. In seiner Gegenwart kann ich an nichts anderes denken als nur an ihn.«
Zur selben Zeit hätte sie Tag und Nacht an der Arbeit sitzen müssen, die sie für den Prix Bordin einreichen wollte. »Ich vernachlässige nicht nur meine Funktionen, sondern auch meine elliptischen Integrale und meinen starren Körper«, scherzte sie gegenüber einem Kollegen, dem Mathematiker Mittag-Leffler, der Maxim dazu überredete, dass es an der Zeit sei, eine Weile Vorlesungen in Uppsala zu halten. Sie riss sich von den Gedanken an ihn los, von den Tagträumen, kehrte zurück zur Bewegung starrer Körper und der Lösung des Problems der »mathematischen Nixe« durch die Anwendung von Thetafunktionen zweier unabhängiger Variablen. Sie arbeitete verbissen, aber glücklich, weil er ihr nie ganz aus dem Sinn ging. Als er zurückkehrte, war sie erschöpft, aber stolz auf ihren Triumph. Ihre zwei Triumphe – nicht nur war ihre Abhandlung bereit für den letzten Schliff und die anonyme Einreichung, auch ihr Liebster war murrend, aber fröhlich, ja ungeduldig aus seiner Verbannung zurück und gab deutlich zu erkennen, so meinte sie, dass er beabsichtigte, sie zur Frau seines Lebens zu machen.
Was der Prix Bordin vereitelte. Glaubte wenigstens Sofia. Sie selbst war anfangs völlig davon eingenommen, geblendet von all den Kronleuchtern und dem Champagner. Ihr wurde ganz schwindlig von den Komplimenten, der Bewunderung und den Handküssen, die vorübergehend bestimmte unbequeme und unveränderliche Wahrheiten zudeckten. Die Tatsache nämlich, dass man sie nie auf einen Posten berufen würde, der ihrer Begabung entsprach, sondern dass sie sich glücklich schätzen konnte, wenn sie an einer Mädchenschule in der Provinz unterrichten durfte. Während sie sich in ihrem Ruhm sonnte, machte Maxim sich aus dem Staub. Natürlich ohne ein einziges Wort über den wahren Grund – nur die Artikel, die er schreiben musste, sein Bedürfnis nach der Stille und dem Frieden von Beaulieu.
Er hatte sich übergangen gefühlt. Ein Mann, der es nicht gewohnt war, übergangen zu werden, und der wahrscheinlich noch
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