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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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hat ihn natürlich nicht daran erinnert, dass ihre Arbeit die Theorie der
partiellen
Differentialgleichungen zum Thema hatte und bereits seit einiger Zeit fertig ist. Sie verbringt die erste Stunde ihrer einsamen Reise so, wie sie meistens die erste Zeit nach dem Abschied von ihm verbringt – mit dem Abwägen der Zeichen von Zuneigung gegen jene der Ungeduld, von Gleichgültigkeit gegen eine gewisse begrenzte Leidenschaft.
    »Denk immer daran, wenn ein Mann aus dem Zimmer geht, lässt er alles darin hinter sich«, hat ihre Freundin Marie Mendelson ihr gesagt. »Wenn eine Frau hinausgeht, trägt sie alles, was in dem Zimmer geschehen ist, mit sich fort.«
    Wenigstens hat sie jetzt Zeit, festzustellen, dass ihr Hals entzündet ist. Sollte er sich angesteckt haben, so hat er hoffentlich nicht sie im Verdacht. Als Junggeselle von robuster Gesundheit betrachtet er die kleinste Infektion als Beleidigung, mangelnde Lüftung oder schlechten Atem als Angriffe auf seine Person. In mancher Hinsicht ist er wirklich recht verwöhnt.
    Verwöhnt und sogar neidisch. Vor einer Weile hat er sie wissen lassen, dass einige seiner Schriften inzwischen ihr zugeschrieben werden, wegen der Namensgleichheit. Er erhielt einen Brief von einem Literaturagenten in Paris, der mit der Anrede begann: Verehrte gnädige Frau.
    Leider habe er vergessen, sagte er, dass sie nicht nur Mathematikerin, sondern auch Schriftstellerin sei. Welch eine Enttäuschung für die Pariser, dass er weder das eine noch das andere ist. Nur ein Gelehrter und ein Mann.
    Wirklich ein Witz.

II
    Sie schläft ein, bevor im Zug die Lampen angezündet werden. Ihre letzten wachen Gedanken – unangenehme Gedanken – gelten Victor Jaclard, dem Ehemann ihrer toten Schwester, den sie in Paris besuchen will. Eigentlich ist es ihr junger Neffe Urij, der Sohn ihrer Schwester, den sie sehen möchte, aber der Junge lebt jetzt bei seinem Vater. Im Geiste sieht sie Urij im Alter von fünf oder sechs Jahren vor sich, engelhaft blond, vertrauensselig und sanft, ohne das Temperament seiner Mutter Anjuta.
    Sie gerät in einen wirren Traum von Anjuta, aber von einer Anjuta, lange bevor Urij und Jaclard die Bühne betraten. Anjuta unverheiratet, goldhaarig, schön anzuschauen und schlecht gelaunt, wieder auf dem Familienbesitz in Palibino, wo sie ihr Turmzimmer mit Ikonen ausschmückt und beklagt, dass dies nicht der richtige fromme Zierrat für das mittelalterliche Europa sei. Sie hat gerade einen Roman von Bulwer-Lytton gelesen und sich in Schleier gewandet, um Edith Schwanenhals zu ähneln, der Geliebten des Harold von Hastings. Sie plant, einen eigenen Roman über Edith zu schreiben, und hat schon auf einigen Seiten die Szene festgehalten, in der die Heldin den Leichnam ihres niedergemetzelten Liebsten anhand körperlicher Merkmale identifizieren soll, die nur sie kennen kann.
    Dann ist Anjuta irgendwie in diesen Zug gelangt und liest ihr diese Seiten vor, und Sofia bringt es nicht über sich, ihr zu erklären, wie sich alles verändert hat und was seit jenen fernen Tagen im Turmzimmer geschehen ist.
    Als Sofia aufwacht, ist ihr erster Gedanke, wie wahr das alles ist, Anjutas Begeisterung für mittelalterliche und inbesondere englische Geschichte – die sich mitsamt den Schleiern eines Tages in Luft auflöste, als habe es sie nie gegeben, und stattdessen schrieb eine ernsthafte und der Gegenwart verhaftete Anjuta über eine junge Frau, die auf Drängen ihrer Eltern und aus Gründen bürgerlicher Moral einen Studenten abweist, der anschließend stirbt. Nach seinem Tod erkennt sie, dass sie ihn liebt, also bleibt ihr keine Wahl, als ihm in den Tod zu folgen.
    Sie schickte diese Erzählung heimlich an eine Zeitschrift, die von Fjodor Dostojewski herausgegeben wurde, und sie wurde abgedruckt.
    Ihr Vater war entrüstet.
    »Jetzt verkaufst du deine Erzählungen, und wann wirst du dich selbst verkaufen?«
    In diesem Aufruhr erschien Fjodor selbst auf der Bildfläche, benahm sich auf einem Fest daneben, besänftigte aber Anjutas Mutter durch einen privaten Besuch und endete mit einem Heiratsantrag. Dass ihr Vater so entschieden dagegen war, brachte Anjuta fast dazu, den Antrag anzunehmen und durchzubrennen. Aber sie hatte schließlich doch eine zu große Vorliebe für ihr eigenes Rampenlicht und vielleicht eine Vorahnung, dass sie das mit Fjodor würde opfern müssen, also wies sie ihn ab. Er verewigte sie als Aglaja in seinem Roman
Der Idiot
und heiratete eine junge Stenographin.
    Sofia

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