Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
nickt wieder ein und gleitet in einen weiteren Traum, in dem sie und Anjuta beide jung sind, aber nicht mehr so jung wie in Palibino, sie sind zusammen in Paris, und Anjutas Geliebter Jaclard – noch nicht ihr Ehemann – hat Harold von Hastings und Fjodor, den Romancier, von ihrem Heldenthron verdrängt, und Jaclard ist ein richtiger Held, wenn auch einer mit schlechten Manieren (er rühmt sich seiner bäuerlichen Herkunft), der von Anfang an untreu ist. Er kämpft irgendwo außerhalb von Paris, und Anjuta hat Angst, dass er fallen wird, weil er so tapfer ist. In Sofias Traum hat sich Anjuta auf die Suche nach ihm gemacht, aber die Straßen, durch die sie weinend und seinen Namen rufend irrt, sind in Petersburg, nicht in Paris, und Sofia bleibt in einem riesigen Pariser Krankenhaus zurück, umgeben von toten Soldaten und blutüberströmten Bürgern, und einer der Toten ist ihr eigener Mann Wladimir. Sie läuft vor den vielen Gefallenen davon und will zu Maxim, der im Hotel Splendide untergebracht ist, in Sicherheit vor den Straßenkämpfen. Maxim wird sie aus allem herausholen.
Sie wacht auf. Draußen ist es dunkel und es regnet, und sie ist nicht allein im Abteil. Eine ungepflegt aussehende junge Frau sitzt neben der Tür, mit einer Zeichenmappe in den Händen. Sofia hat Angst, im Traum aufgeschrien zu haben, aber sie tat es wohl doch nicht, denn die junge Frau schläft friedlich.
Angenommen, diese junge Frau sei wach gewesen und Sofia habe zu ihr gesagt: »Verzeihen Sie mir, ich habe von 1871 geträumt. Ich war da, in Paris, meine Schwester war in einen Kommunarden verliebt. Er geriet in Gefangenschaft und hätte erschossen oder nach Neukaledonien verbannt werden können, aber es ist uns gelungen, ihn herauszuholen. Meinem Mann ist es gelungen. Meinem Mann Wladimir, der überhaupt kein Kommunarde war und sich nur die Fossilien im Jardin des Plantes anschauen wollte.«
Die junge Frau wäre wahrscheinlich gelangweilt gewesen. Vielleicht hätte sie die Höflichkeit gewahrt, aber trotzdem durchblicken lassen, von ihr aus habe sich das Ganze ebenso gut vor der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies zutragen können. Vermutlich war sie nicht einmal Französin. Junge Französinnen, die es sich leisten konnten, erster Klasse zu fahren, reisten für gewöhnlich nicht allein. Amerikanerin?
Seltsamerweise stimmte es, dass Wladimir in der Lage gewesen war, einige jener Tage im Jardin des Plantes zuzubringen. Aber es stimmte nicht, dass er dabei ums Leben gekommen war. Inmitten des Aufruhrs legte er den Grundstein für seine einzige erfolgreiche Laufbahn, die eines Paläontologen. Und es stimmte auch, dass Anjuta Sofia in ein Krankenhaus mitgenommen hatte, aus dem die richtigen Krankenschwestern alle hinausgeworfen worden waren. Sie galten als Konterrevolutionäre und sollten durch Frauen und Kameraden aus der Kommune ersetzt werden. Die Frauen aus dem Volk fluchten darüber, weil sie nicht einmal wussten, wie sie Verbände anlegen sollten, und weil ihnen die Verwundeten wegstarben, obschon die meisten ohnehin gestorben wären. Es gab nicht nur Kriegsverletzungen, die behandelt werden mussten, es brachen auch Seuchen aus. Es hieß, dass die einfachen Leute sich inzwischen von Hunden und Ratten ernährten.
Jaclard und seine Revolutionäre kämpften zehn Wochen lang. Nach der Niederlage wurde er in Versailles eingekerkert, in einem unterirdischen Verlies. Mehrere Männer waren erschossen worden, weil man sie mit ihm verwechselt hatte. So hieß es jedenfalls.
Inzwischen war der General, der Vater von Anjuta und Sofia, aus Russland eingetroffen. Anjuta wurde nach Heidelberg gebracht, wo sie sich krank ins Bett legte. Sofia kehrte nach Berlin und zu ihren mathematischen Studien zurück, aber Wladimir blieb, ließ von seinen tertiären Säugetieren ab, um zusammen mit dem General Jaclards Freilassung zu betreiben. Die wurde durch Bestechung und Wagemut erreicht. Jaclard sollte, nur von einem Soldaten bewacht, in ein Pariser Gefängnis verbracht werden, durch eine bestimmte Straße, in der sich wegen einer Ausstellung eine Menschenansammlung befinden würde. Wladimir sollte ihn sich schnappen, während der Wachmann fortsah, wofür er bezahlt worden war. Und immer noch unter Wladimirs Führung sollte Jaclard in aller Eile durch die Menge in einen Raum gebracht werden, wo ihn Zivilkleidung erwartete, dann sollte er zum Bahnhof geleitet und mit Wladimirs Reisepass ausgestattet werden, damit er in die Schweiz fliehen
Weitere Kostenlose Bücher