Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
konnte.
All das gelang.
Jaclard fand es nicht der Mühe wert, den Reisepass mit der Post zurückzuschicken, bis Anjuta bei ihm eintraf und es tat. Das Geld wurde nie zurückgezahlt.
Sofia schickte von ihrem Hotel in Paris aus Briefe an Marie Mendelson und Jules Poincaré. Maries Zofe antwortete ihr, ihre Herrin sei in Polen. Sofia schrieb in einem weiteren Brief, sie werde vielleicht im kommenden Frühjahr den Rat ihrer Freundin brauchen, bei »der Auswahl passender Kleidung für das Ereignis, das der Welt als das wichtigste im Leben einer Frau gilt«. In Klammern fügte sie hinzu, dass sie »in der Welt der Mode immer noch nicht fest Fuß gefasst« habe.
Poincaré suchte sie zu einer ungewöhnlich frühen Morgenstunde auf und beklagte sich sofort über das Verhalten des Mathematikers Weierstraß, Sofias altem Mentor, der zu den Juroren des neugeschaffenen Mathematikpreises des Königs von Schweden zählte. Poincaré war der Preis verliehen worden, aber Weierstraß hatte es für nötig befunden, dagegen Einwände zu erheben, mit der Begründung, Poincarés Arbeit könne Fehler enthalten, weil ihm – Weierstraß – nicht genug Zeit geblieben sei, sie zu untersuchen. Er hatte einen Brief mit ausführlichen Fragen an den König von Schweden geschrieben – als könne solch eine hochgestellte Persönlichkeit überhaupt verstehen, wovon er redete. Und er hatte verlautbart, Poincaré werde man in Zukunft mehr wegen der negativen als der positiven Aspekte seines Werks schätzen.
Sofia besänftigte ihn und sagte ihm, sie sei im Begriff, Weierstraß zu besuchen, und werde dieses Thema zur Sprache bringen. Sie gab vor, nichts davon gehört zu haben, obwohl sie in Wirklichkeit ihrem alten Lehrer einen spöttelnden Brief geschrieben hatte.
»Ich bin überzeugt, seine Majestät hat seit dem Eintreffen Ihrer Mitteilung mit starken Störungen des königlichen Schlafs zu kämpfen. Bedenken Sie nur, wie sehr Sie den königlichen Verstand erschüttert haben, der bislang von Mathematik glücklich verschont blieb. Sehen Sie sich vor, sonst könnte er seine Großzügigkeit noch bedauern …«
»Immerhin«, sagte sie zu Jules, »immerhin haben Sie diesen Preis und werden ihn für alle Zeit haben.«
Jules pflichtete ihr bei und fügte hinzu, dass sein eigener Name noch leuchten werde, wenn man Weierstraß schon vergessen habe.
Wir alle werden vergessen sein, dachte Sofia, sagte es aber nicht aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten von Männern – besonders von jungen Männern – in dieser Hinsicht.
Sie verabschiedete sich gegen Mittag von ihm, um Jaclard und Urij aufzusuchen. Die beiden wohnten in einem Armenviertel der Stadt. Sofia musste einen Hof durchqueren, auf dem Wäsche hing – der Regen hatte aufgehört, aber der Tag war immer noch trüb –, und eine lange, etwas glitschige Außentreppe hinaufsteigen. Jaclard rief ihr zu, die Tür sei offen, und als sie eintrat, saß er auf einer umgestürzten Kiste und putzte ein Paar Stiefel. Er stand nicht zu ihrer Begrüßung auf, und als sie ihren Mantel ausziehen wollte, sagte er: »Lieber nicht. Der Ofen wird erst abends angemacht.« Er wies ihr den einzigen Sessel zu, ein zerschlissenes und speckiges Exemplar. Ein ganzes Stück schlimmer, als sie erwartet hatte. Urij war nicht da, hatte nicht auf sie gewartet.
Zweierlei wollte sie über Urij herausfinden. Wurde er Anjuta und der russischen Seite der Familie ähnlicher? Und war er mittlerweile gewachsen? Mit fünfzehn, letztes Jahr in Odessa, hatte er nicht älter als zwölf ausgesehen.
Bald stellte sie fest, dass alles eine Wendung genommen hatte, die solche Belange weniger wichtig machte.
»Urij?«, fragte sie.
»Nicht da.«
»Ist er in der Schule?«
»Schon möglich. Ich weiß wenig von ihm. Und je mehr ich von ihm erfahre, desto weniger interessiert es mich.«
Also hielt sie es für besser, ihn erst einmal zu besänftigen und das Thema später wieder aufzugreifen. Sie erkundigte sich nach seiner – Jaclards – Gesundheit, und er sagte, er habe es auf der Lunge. Er habe den Winter von 71 mit der Hungersnot und den Nächten im Freien einfach nicht verkraftet. Sofia konnte sich nicht daran erinnern, dass die Kämpfer der Kommune Hunger leiden mussten – eigentlich war es ihre Pflicht, etwas zu essen, damit sie kämpfen konnten –, aber sie sagte versöhnlich, sie habe gerade im Zug an diese Zeiten gedacht. Sie habe an Wladimir und die Rettung gedacht, die wie etwas aus einer komischen Oper
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