Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
gewesen sei.
Nicht komisch, sagte er, und auch keine Oper. Aber er belebte sich, als er davon redete. Er sprach von den Männern, die erschossen worden waren, weil man sie mit ihm verwechselt hatte, und von den verzweifelten Kämpfen, die zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Mai stattgefunden hatten. Als er gefangen genommen wurde, war die Zeit der Massenhinrichtungen vorbei, aber er rechnete immer noch mit seinem Tod nach einem Prozess, der nur eine Farce war. Wie ihm die Flucht gelungen war, das wusste Gott allein. Nicht, dass er an Gott glaubte, fügte er hinzu, wie jedes Mal.
Und jedes Mal, wenn er die Geschichte erzählte, wurde die Rolle, die Wladimir – und das Geld des Generals – gespielt hatte, kleiner. Auch der Reisepass wurde nicht mehr erwähnt. Jaclards eigene Tapferkeit, seine eigene Flinkheit, die gaben nun den Ausschlag. Aber während er sprach, schien er seiner Zuhörerin geneigter zu werden.
Sein Name wurde immer noch genannt. Seine Geschichte wurde immer noch erzählt.
Und weitere Geschichten folgten, auch sie altvertraut. Er stand auf und holte eine Stahlkassette unter dem Bett hervor. Hier war das kostbare Dokument, das für seine Ausweisung aus Russland gesorgt hatte, als er sich mit Anjuta einige Zeit nach den Tagen der Kommune in Petersburg aufgehalten hatte. Er musste es ganz vorlesen.
»Gnädiger Herr Konstantin Petrowitsch, ich beeile mich, Ihnen zur Kenntnis zu bringen, dass der Franzose Jaclard, ein Mitglied der ehemaligen Kommune, solange er in Paris weilte, beständig in Verbindung mit Vertretern der Polnischen Partei des revolutionären Proletariats stand, dem Juden Karl Mendelson, und dank der russischen Beziehungen seiner Frau daran beteiligt war, dass Mendelsons Briefe nach Warschau gelangten. Er ist ein Freund vieler herausragender französischer Radikaler. Von Petersburg aus sandte er höchst falsche und schädliche Nachrichten über die politischen Verhältnisse in Russland nach Paris, und seit dem ersten März und dem Attentat auf den Zaren haben diese Meldungen alle Grenzen der Geduld überschritten. Daher beschloss der Minister auf mein Insistieren hin, ihn unseres Reiches zu verweisen.«
Die Lebensfreude kehrte in ihn zurück, während er vorlas, und Sofia erinnerte sich an seine früheren Foppereien und Kapriolen, dank derer sie und sogar Wladimir sich nahezu geehrt gefühlt hatten, von ihm beachtet zu werden, und sei es nur als Zuhörer.
»Ah, zu schade«, sagte er. »Zu schade, dass sein Bericht nicht vollständig ist. Er erwähnt überhaupt nicht, dass ich von den Marxisten der Internationale in Lyon gewählt wurde, sie in Paris zu vertreten.«
In diesem Augenblick kam Urij herein. Sein Vater fuhr fort zu reden.
»Das war natürlich geheim. Offiziell wurde ich dem Lyoner Stadtrat für Öffentliche Sicherheit zugeteilt.« Er ging jetzt auf und ab, in freudig erregtem Ernst. »In Lyon hörten wir davon, dass Napoléon le neveu eingefangen wurde. Angemalt wie eine Hure.«
Urij nickte seiner Tante zu, zog die Jacke aus – offenbar spürte er die Kälte nicht – und setzte sich auf die Kiste, um die Arbeit seines Vaters an den Stiefeln fortzuführen.
Ja. Er sah wirklich aus wie Anjuta. Aber es war die Anjuta der späteren Tage, mit der er Ähnlichkeit aufwies. Die müde und missmutig gesenkten Augenlider, die skeptisch – und bei ihm verächtlich – geschürzten vollen Lippen. Keine Spur von dem goldhaarigen jungen Mädchen mit dem Hunger nach Gefahr, nach gerechtem Ruhm, mit ihren Ausbrüchen voll wüster Beschimpfungen. An dieses Geschöpf wird Urij sich nicht erinnern können, nur an die kranke Frau, unförmig, asthmatisch, von Krebs befallen, die sich lauthals nach dem Tod sehnte.
Jaclard hatte sie vielleicht anfangs geliebt, soweit er jemanden lieben konnte. Er nahm wahr, dass sie ihn liebte. In seinem naiven oder vielleicht einfach prahlerischen Brief an ihren Vater, der seinen Entschluss verkündete, sie zu heiraten, schrieb er, dass es ihm ungerecht erschien, eine Frau zu verlassen, die ihm so zugetan war. Er hatte andere Frauen nie aufgegeben, nicht einmal am Anfang seiner Beziehung zu Anjuta, die völlig verzückt davon war, ihn entdeckt zu haben. Und ganz bestimmt nicht während seiner Ehe. Sofia konnte sich vorstellen, dass er auf Frauen immer noch anziehend wirkte, obwohl sein Bart grau und ungepflegt war und obwohl er sich beim Reden manchmal so erregte, dass er ins Stottern geriet. Ein kampfesmüder Held, der seine Jugend geopfert
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