Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
hieß er – wenn er nicht da war – der ernste Po. Ich hatte ein loses Mundwerk.
Dabei glaubte ich fest, dass ich es nicht böse meinte. Jedenfalls nicht sehr. Nachdem Tante Nell Potts gestorben war, kam er nicht mehr, sondern schickte zu Weihnachten eine Grußkarte.
Als ich dann in London – das heißt, in London, Ontario –, der Stadt, in der er wohnte, aufs College ging, ließ er es sich angelegen sein, mich jeden zweiten Sonntagabend zum Essen auszuführen. Ich hielt das für eine Selbstverständlichkeit, weil ich eine Verwandte war – er brauchte nicht einmal zu überlegen, ob wir uns dazu eigneten, Zeit miteinander zu verbringen. Er führte mich immer in dasselbe Etablissement, ein Restaurant, das sich das Old Chelsea nannte, im ersten Stock gelegen war und Ausblick auf die Dundas Street bot. Es war mit Samtvorhängen, weißen Tischdecken und kleinen Tischlampen mit rosa Schirmchen ausgestattet. Wahrscheinlich war es teurer, als sein Geldbeutel ihm erlaubte, aber auf den Gedanken kam ich gar nicht, denn als Mädchen vom Lande hatte ich die Vorstellung, dass alle Männer, die in einer richtigen Stadt wohnten, jeden Tag einen Anzug trugen und immer saubere Fingernägel hatten, über einen Wohlstand verfügten, in dem ein solcher Luxus ganz normal war.
Ich nahm das exotischste Gericht auf der Speisekarte wie Huhn
vol au vent
oder Ente
à l’orange
, während er stets Roastbeef aß. Die Nachspeisen wurden auf einem Teewagen an den Tisch gerollt. Es gab meistens eine hohe Kokostorte, Vanillecremetörtchen mit Erdbeeren außerhalb der Saison und Blätterteighörnchen mit Schokoladenüberzug und Schlagsahnefüllung. Ich brauchte lange, bis ich mich entschied, wie eine Fünfjährige bei den Geschmackssorten von Eiscreme, und am Montag musste ich dann den ganzen Tag lang fasten, um so viel Völlerei wettzumachen.
Ernie sah ein wenig zu jung aus, um mein Vater zu sein. Ich hoffte, dass niemand aus dem College uns sehen und ihn für meinen Freund halten würde.
Er erkundigte sich nach meinen Vorlesungen und nickte ernst, wenn ich ihm davon berichtete oder ihn daran erinnerte, dass Englisch und Philosophie meine Hauptfächer waren. Er verdrehte daraufhin nicht die Augen wie alle bei mir zu Hause. Er sagte mir, er habe große Achtung vor einer guten Ausbildung und bedauere, nicht die Mittel gehabt zu haben, um seine eigene nach der Highschool fortzusetzen. Stattdessen hatte er sich Arbeit bei der Staatlichen Kanadischen Eisenbahn besorgt, als Fahrkartenverkäufer. Jetzt war er Kontrolleur.
Er mochte gute Bücher, aber sie waren kein Ersatz für ein College-Studium.
Ich war mir ziemlich sicher, dass seine Vorstellung von guten Büchern sich auf die Romanauszüge im Reader’s Digest beschränkte, und um ihn vom Thema meines Studiums abzubringen, erzählte ich ihm von meinem Fremdenheim. Zu jener Zeit hatte das College keine Studentenwohnheime – wir hausten alle in Fremdenheimen oder in billigen Wohnungen oder in den Häusern von studentischen Verbindungen. Mein Zimmer war die Dachkammer eines alten Hauses, mit viel Fußboden und wenig Raum in Kopfhöhe. Aber da früher das Dienstmädchen dort einquartiert war, besaß es ein eigenes Badezimmer. Im ersten Stock befanden sich die Zimmer der anderen beiden Stipendiatinnen, die kurz vor ihrem Abschluss in Neueren Sprachen standen. Sie hießen Kay und Beverly. In den hohen, aber zerstückelten Zimmern im Erdgeschoss wohnten ein Medizinstudent, der kaum je zu Hause war, und seine Frau Beth, die immer zu Hause war, weil sie zwei kleine Kinder hatte. Beth war die Hausmeisterin und Mietkassiererin, und zwischen ihr und den Mädchen im ersten Stock gab es oft Streit darüber, dass sie ihre Wäsche im Badezimmer wuschen und dort zum Trocknen aufhängten. Wenn der Medizinstudent zu Hause war, musste er manchmal dieses Badezimmer benutzen wegen der Babysachen, die seines im Erdgeschoss beschlagnahmten, und Beth sagte, er sollte sich nicht mit Strümpfen im Gesicht und intimer Reizwäsche herumplagen müssen. Kay und Beverly gaben zur Antwort, dass ihnen beim Einzug ein eigenes Badezimmer zugesichert worden sei.
Das waren so die Dinge, die ich Ernie erzählte, der rot wurde und sagte, sie hätten es schriftlich festlegen müssen.
Kay und Beverly waren für mich eine Enttäuschung. Sie arbeiteten fleißig für ihr Studium, aber ihre Gespräche und ihre Beschäftigungen kamen mir nicht viel anders vor als die von Mädchen, die in Banken oder Büros arbeiteten. Samstags
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