Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Leben im College ausstatten«. Aber sobald sie von den Vorlesungen kam, vertauschte sie alles mit dem Kimono. Sie machte sich meistens nicht die Mühe, irgendetwas aufzuhängen. Ich zog ebenfalls meine Schulsachen gleich aus, aber in meinem Fall geschah es, um den Rock faltenfrei und die Bluse oder den Pullover möglichst frisch zu halten, also hängte ich alles sorgfältig auf. Abends trug ich einen wollenen Morgenrock. Ich hatte ein frühes Abendbrot im College als Teil meines Arbeitslohns gegessen, und auch Nina schien gegessen zu haben, obwohl ich nicht wusste, wo. Vielleicht bestand ihr Abendbrot nur aus dem, was sie den ganzen Abend lang zu sich nahm – Mandeln, Apfelsinen und Pralinen, die in rote oder goldene oder violette Folie eingewickelt waren.
Ich fragte sie, ob ihr nicht kalt werde, in diesem dünnen Kimono.
»M-m«, sagte sie. Sie nahm meine Hand und hielt sie an ihren Hals. »Mir ist immer warm«, sagte sie, und sie fühlte sich wirklich warm an. Ihre Haut sah sogar warm aus, obwohl sie sagte, das sei nur ihre verblassende Sonnenbräune. Und mit dieser Hautwärme war ein besonderer Geruch verbunden, der nussig oder würzig war, nicht unangenehm, aber nicht der Geruch eines Körpers, der ständig gebadet oder geduscht wird. (Auch ich war nicht ganz frisch, weil Beth die Regel von nur einem Bad pro Woche aufgestellt hatte. Viele badeten damals nur einmal in der Woche, und ich habe das Gefühl, dass mehr Körpergeruch in der Luft lag, trotz Körperpuder und der krümeligen Deopasten.)
Ich las meistens noch bis spät in die Nacht. Ich hatte gedacht, dass mir das Lesen mit jemand anderem im Zimmer schwerer fallen würde, aber Nina machte es mir leicht. Sie schälte ihre Apfelsinen, wickelte ihre Pralinen aus und legte ihre Patiencen. Wenn sie sich strecken musste, um eine Karte umzulegen, gab sie manchmal ein leises Geräusch von sich, ein Ächzen oder Stöhnen, als beschwere sie sich über diese kleine Veränderung der Körperhaltung, finde aber gleichzeitig Gefallen daran. Ansonsten war sie zufrieden und legte sich, wann immer ihr danach war, bei brennendem Licht schlafen. Und da es keinen Zwang oder besonderen Anlass zum Reden gab, redeten wir bald miteinander und erzählten aus unserem Leben.
Nina war zweiundzwanzig Jahre alt, und Folgendes war ihr seit ihrem fünfzehnten Geburtstag widerfahren:
Als Erstes ließ sie sich schwängern (so drückte sie sich aus) und heiratete den Vater, der nicht viel älter war als sie. Das geschah in einer Kleinstadt irgendwo in der Gegend von Chicago. Sie hieß Laneyville, Arbeit für Jungen gab es nur am Getreideheber oder als Maschinist und Arbeit für Mädchen nur in den Läden. Ninas Ehrgeiz war es, Friseuse zu werden, aber für diese Ausbildung musste sie aus der Stadt fort. Sie hatte nicht immer in Laneyville gelebt, ihre Großmutter wohnte dort, und sie zog zu ihr, weil ihr Vater gestorben war, ihre Mutter wieder geheiratet hatte und ihr Stiefvater sie dann hinauswarf.
Sie bekam ein zweites Kind, wieder ein Junge, und ihrem Mann wurde angeblich Arbeit in einer anderen Stadt versprochen, also ging er dorthin. Er wollte sie nachholen, tat es aber nie. Sie ließ beide Kinder bei der Großmutter und nahm den Bus nach Chicago.
Im Bus lernte sie ein Mädchen namens Marcy kennen, das wie sie nach Chicago wollte. Marcy kannte dort einen Mann, der ein Restaurant besaß und ihnen Arbeit geben würde. Aber als sie dann in Chicago das Restaurant ausfindig gemacht hatten, stellte sich heraus, dass es ihm gar nicht gehörte, er hatte nur dort gearbeitet und schon vor einiger Zeit aufgehört. Der Mann, dem es jetzt gehörte, hatte oben ein leeres Zimmer und ließ sie dort wohnen, wenn sie dafür jeden Abend das Restaurant saubermachten. Sie mussten die Damentoilette im Restaurant benutzen und durften dort tagsüber nicht viel Zeit verbringen, denn sie war für die Gäste da. Kleidungsstücke, die es nötig hatten, mussten sie nach Geschäftsschluss waschen.
Ihnen blieb kaum Zeit zum Schlafen. Sie freundeten sich mit einem Barkeeper auf der anderen Straßenseite an, der schwul, aber nett war und ihnen immer Ginger Ale spendierte. Dort lernten sie einen Mann kennen, der sie zu einer Party einlud, und von da an wurden sie zu anderen Partys eingeladen, und in dieser Zeit lernte Nina Mr Purvis kennen. Er gab ihr den Namen Nina. Davor hieß sie June. Sie zog in das Haus von Mr Purvis in Chicago.
Sie wartete auf den richtigen Zeitpunkt, um ihre Söhne zur Sprache zu
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