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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Verhöhnung zu betrachten, sondern als ernsthafte Frage.
    »Ich weiß es nicht. Ich bin wohl eher erschrocken, als dass ich Angst habe. Ich weiß es nicht.«
    »Eins vorweg. Vor einem brauchen Sie keine Angst zu haben. Ich werde Sie nicht vergewaltigen.«
    »Das habe ich auch nicht angenommen.«
    »Sie können nie ganz sicher sein.« Er trank einen Schluck Tee und verzog das Gesicht. »Nur weil Sie eine alte Dame sind. Da draußen gibt’s welche, die tun’s mit allem und jedem. Mit Babys oder Hunden und Katzen oder alten Damen. Mit alten Männern. Die sind nicht wählerisch. Ich schon. Mir liegt nichts daran, es irgendwie zu kriegen, nur normal mit einer netten Dame, die mir gefällt und der ich gefalle. Also seien Sie unbesorgt.«
    Nita sagte: »Ich bin’s. Aber danke, dass Sie’s mir gesagt haben.«
    Er zuckte die Achseln, schien aber mit sich zufrieden zu sein.
    »Ist das Ihr Auto da draußen?«
    »Das Auto meines Mannes.«
    »Ihres Mannes? Wo ist der?«
    »Er ist tot. Ich kann nicht fahren. Ich will es verkaufen, aber ich bin noch nicht dazu gekommen.«
    Wie dumm von ihr, wie dumm von ihr, ihm das zu sagen.
    »Von 2004 ?«
    »Ich glaube, ja.«
    »Eine Minute lang dachte ich, Sie wollten mich reinlegen mit dem Ehemannkram. Hätte aber nicht funktioniert. Ich rieche das, wenn eine Frau alleinstehend ist. Ich weiß es, sobald ich ein Haus betrete. Sobald sie die Tür aufmacht. Instinkt. Und der Wagen läuft? An welchem Tag ist er damit zum letzten Mal gefahren?«
    »Am siebzehnten Juni. Der Tag, an dem er gestorben ist.«
    »Mit Benzin im Tank.«
    »Ich denke doch.«
    »Wär schön, wenn er direkt davor getankt hätte. Haben Sie die Schlüssel?«
    »Nicht bei mir. Aber ich weiß, wo sie sind.«
    »Gut.« Er schob seinen Stuhl zurück und stieß an eine der Scherben. Er stand auf, schüttelte den Kopf, als sei er irgendwie überrascht, und setzte sich wieder hin.
    »Ich bin alle. Muss mich einen Augenblick hinsetzen. Dachte, es wird besser, wenn ich was esse. Das mit der Zuckerkrankheit hab ich mir bloß ausgedacht.«
    Sie schob ihren Stuhl zurück, und er schrak hoch.
    »Sie bleiben, wo Sie sind. Ich bin nicht so alle, dass ich Sie nicht packen kann. Ich bin bloß die ganze Nacht durch gelaufen.«
    »Ich wollte nur die Schlüssel holen.«
    »Sie warten, bis ich’s sage. Ich bin auf den Gleisen losgegangen. Ohne dass ein Zug kam. Ich bin das ganze Stück hierher gelaufen, ohne dass ein Zug gekommen ist.«
    »Da fährt fast nie ein Zug.«
    »Stimmt. Na jedenfalls bin ich runter vom Bahndamm, um einige dieser blöden Kleinstädte zu umgehen. Bei Tagesanbruch war immer noch alles okay, bis auf da, wo der Damm die Straße kreuzt und ich gespurtet bin. Dann hab ich hier runtergeschaut und das Haus und das Auto gesehen, und ich hab zu mir gesagt: Das ist es. Ich hätte das Auto von meinem Alten nehmen können, aber ich bin ja nicht völlig beknackt.«
    Sie wusste, er wollte, dass sie ihn fragte, was er getan hatte. Ihr war auch klar, je weniger sie wusste, desto besser für sie.
    Dann dachte sie zum ersten Mal, seit er das Haus betreten hatte, an ihren Krebs. Sie begriff, dass der sie befreite, sie außer Gefahr brachte.
    »Weswegen lächeln Sie?«
    »Ich weiß nicht. Habe ich gelächelt?«
    »Ich nehme an, Sie hören gern Geschichten. Wollen Sie, dass ich Ihnen eine erzähle?«
    »Vielleicht will ich lieber, dass Sie gehen.«
    »Ich werd schon gehen. Aber erst erzähl ich Ihnen eine Geschichte.«
    Er steckte die Hand in eine Gesäßtasche. »Hier. Wollen Sie mal ein Bild sehen? Da.«
    Es war ein Foto von drei Personen, aufgenommen in einem Wohnzimmer mit zugezogenen geblümten Vorhängen als Hintergrund. Ein alter Mann – nicht sehr alt, vielleicht Mitte sechzig – und eine Frau im selben Alter saßen auf einem Sofa. Eine sehr große jüngere Frau saß in einem Rollstuhl, der dicht vor einem Ende des Sofas stand. Der alte Mann war beleibt und grauhaarig, er hatte die Augen zusammengekniffen, und sein Mund stand ein wenig offen, als leide er unter Atembeschwerden, aber er lächelte, so gut er konnte. Die alte Frau war wesentlich kleiner, mit schwarzgefärbten Haaren und Lippenstift, sie trug eine sogenannte Bauernbluse mit roten Schleifchen an den Handgelenken und am Hals. Sie lächelte entschlossen, sogar ein bisschen verzweifelt, mit breitgezogenen Lippen, vielleicht vor schlechten Zähnen.
    Aber es war die jüngere Frau, die das Bild vereinnahmte. Unübersehbar und ungeheuer in ihrem grellbunten Hawaiigewand,

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