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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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dunkle Haare waren zu einer Reihe kleiner Löckchen um die Stirn drapiert, Hängebacken reichten bis zum Hals. Und trotz all der Fleischmassen ein Ausdruck von Selbstzufriedenheit und Listigkeit.
    »Das ist meine Mutter, und das ist mein Vater. Und das ist meine Schwester Madelaine. Die im Rollstuhl.
    Sie war von Geburt an nicht ganz richtig. Kein Arzt oder sonst wer konnte was für sie tun. Und sie hat gefuttert wie ein Schwein. Zwischen uns war böses Blut, solange ich denken kann. Sie war fünf Jahre älter als ich und nur drauf aus, mich zu quälen. Hat alles nach mir geworfen, was sie in die Finger kriegen konnte, und hat mich umgestoßen und versucht, mich mit ihrem beschissenen Rollstuhl zu überfahren. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise.«
    »Das muss schwer für Sie gewesen sein. Und schwer für Ihre Eltern.«
    »Ha. Die haben klein beigegeben und es hingenommen. Sie sind zu so einer Kirche gegangen, und der Prediger da hat ihnen gesagt, sie ist ein Geschenk Gottes. Sie haben sie in die Kirche mitgenommen, und da hat sie immer gejault wie eine Katze im Hinterhof, und sie haben dann gesagt, sie versucht eben, Musik zu machen, Gott segne sie, so ein Scheiß. Tschuldigung.
    Also war ich nie viel zu Hause, verstehn Sie, ich bin los und hab mein eigenes Leben geführt. Besser so, hab ich gesagt, die Scheiße zu Hause brauch ich nicht. Ich hab mein eigenes Leben. Ich hab Arbeit. Ich hab fast immer Arbeit gefunden. Ich hab mich nie auf Staatskosten besoffen und auf meinem Arsch rumgesessen. Auf meinem Hinterteil, meine ich. Ich hab meinen Alten nie um Geld angehauen. Ich bin hoch und hab bei dreiunddreißig Grad im Schatten ein Dach geteert oder in einem verstunkenen Restaurant die Böden aufgewischt oder in einer schrottigen Werkstatt Autos repariert. Hab ich alles gemacht. Aber ich war nicht immer bereit, alles zu schlucken, also hab ich’s nie lange ausgehalten. Leute wie ich werden immer wie Dreck behandelt, und ich konnt’s nicht ertragen. Ich komme aus einer anständigen Familie. Mein Vater hat gearbeitet, bis er zu krank wurde, er war Busfahrer. Ich bin’s von zu Hause aus nicht gewohnt, Dreck zu fressen. Aber egal. Jedenfalls haben meine Eltern mir immer gesagt, das Haus gehört mal dir. Es ist abbezahlt und in gutem Zustand und für dich. Das haben sie mir gesagt. Wir wissen, dass du es schwer hattest, als du klein warst, und wenn du’s nicht so schwer gehabt hättest, wärst du richtig zur Schule gegangen, also wollen wir’s wieder gutmachen, soweit wir können. Dann hab ich vor kurzem mit meinem Vater telefoniert, und er sagt, dir ist doch wohl die Abmachung klar. Ich darauf: Was für eine Abmachung? Und er: Das Ganze gilt nur, wenn du die Papiere unterschreibst, dass du für deine Schwester sorgen wirst, solange sie lebt. Es ist nur dein Zuhause, wenn es auch ihr Zuhause ist, sagt er.
    Gottverdammt! Davon hatte ich noch nie gehört. Von dieser Abmachung. Ich dachte immer, wenn die Eltern sterben, dann kommt sie in ein Heim. Und zwar nicht in meins.
    Also habe ich zu meinem Alten gesagt, so hab ich das aber nicht verstanden, und er sagt, es ist alles fertig für dich zur Unterschrift, aber wenn du nicht willst, brauchst du nicht zu unterschreiben. Deine Tante Rennie wird kommen und auch auf dich ein Auge haben, wenn wir also mal nicht mehr sind, dann schau zu, dass du dich an die Verpflichtungen hältst.
    Ha, meine Tante Rennie. Sie ist die jüngste Schwester meiner Mutter und ein richtiges Biest.
    Jedenfalls sagt er, deine Tante Rennie wird ein Auge auf dich haben, und plötzlich hab ich einfach umgeschaltet. Schön, hab ich gesagt, dann ist es eben so, und es ist wohl bloß fair. Also gut, ist es in Ordnung, wenn ich Sonntag zum Essen bei euch vorbeikomme?
    Klar, sagt er. Freut mich, dass du dich aufs Richtige besonnen hast. Du gehst immer zu schnell in die Luft, in deinem Alter müsstest du langsam zur Vernunft kommen.
    Komisch, dass gerade du das sagst, sag ich zu mir.
    Also fahre ich hin, und Mama hat ein Huhn gebraten. Roch gut, als ich ins Haus kam. Dann krieg ich den Geruch von Madelaine in die Nase, denselben alten, ekelhaften Geruch, ich weiß nicht, was das ist, auch wenn Mama sie jeden Tag wäscht, er ist immer da. Aber ich bin nett gewesen. Ich hab gesagt: Gute Gelegenheit für ein Foto. Ich hab ihnen erzählt, dass ich einen fabelhaften neuen Fotoapparat habe, der die Bilder sofort entwickelt. Gleich danach könnt ihr sie sehen, wie findet ihr das? Und ich hab sie alle dazu

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