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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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hinein, so dass er blutete. Daraufhin wurden wir getrennt, und zwar für eine Woche, aber unsere finsteren Blicke aus dem Fenster verwandelten sich bald in sehnsüchtiges Flehen, und so wurde der Bann aufgehoben.
    Im Winter stand uns das ganze Grundstück zur Verfügung, wir errichteten Schneefestungen, die wir mit Stöcken aus Brennholz bewehrten und mit Arsenalen von Schneebällen munitionierten, um jeden zu bewerfen, der vorbeikam. Allerdings kam nur selten jemand vorbei, weil unsere Straße eine Sackgasse war. Wir mussten einen Schneemann bauen, damit wir ihn unter Trommelfeuer nehmen konnten.
    Wenn ein schwerer Schneesturm uns ans Haus fesselte, an mein Haus, wurden wir von meiner Mutter beaufsichtigt. Wir mussten ruhiggestellt werden, wenn mein Vater zu Hause war und mit Kopfschmerzen im Bett lag, also las sie uns Geschichten vor.
Alice im Wunderland
, erinnere ich mich. Wir waren beide sehr aufgeregt, als Alice das Fläschchen austrank und so sehr wuchs, dass sie im Haus des Kaninchens feststeckte.
    Was war mit Doktorspielen, mögen Sie fragen. Ja, die gab es auch. Ich erinnere mich, wie wir uns an einem extrem heißen Tag in einem Zelt versteckten, das – ich habe keine Ahnung, warum – hinter dem Nebenhaus aufgeschlagen war. Wir krochen hinein, um einander zu erkunden. Die Zeltleinwand hatte einen ganz bestimmten erotischen, aber kindlichen Geruch, wie die Unterwäsche, die wir auszogen. Wir kitzelten uns, was uns anfangs erregte, aber bald keinen Spaß mehr machte, weil uns überall der Schweiß juckte und wir uns schämten. Als wir hinausgelangten, war ein größerer Abstand zwischen uns als sonst und wir empfanden einen merkwürdigen Argwohn gegeneinander. Ich weiß nicht mehr, ob das Gleiche noch einmal und mit dem gleichen Ergebnis stattfand, aber es würde mich nicht wundern.
    Ich kann mir Nancys Gesicht nicht so deutlich in Erinnerung rufen wie das ihrer Mutter. Ich glaube, Haut- und Haarfarbe ähnelten sich oder würden es mit der Zeit tun. Blondes Haar mit natürlichem Braun, aber im Sommer von viel Sonne ausgeblichen. Sehr rosige, fast rötliche Haut. Ja. Ich sehe ihre roten Wangen, fast wie mit dem Buntstift gemalt. Auch sie verdankten sich der vielen im Freien verbrachten Zeit und dazu ihrem energischen Behauptungswillen.
    In meinem Haus, das versteht sich von selbst, durften wir nur wenige Zimmer betreten, alle anderen waren uns verboten. Es wäre uns im Traum nicht eingefallen, in den ersten Stock hinauf- oder in den Keller hinunterzugehen oder in den vorderen Salon oder ins Esszimmer. Aber im Nebenhaus durften wir überall hin, außer da, wo Nancys Mutter gerade etwas Ruhe zu finden versuchte oder wo Mrs Codd am Radio hing. Der Keller war ein guter Zufluchtsort, wenn sogar uns die Nachmittagshitze zu viel wurde. Es gab kein Geländer entlang der Treppe, und unsere Sprünge hinunter auf den festgestampften Boden wurden immer waghalsiger. Und wenn wir davon genug hatten, konnten wir auf ein altes Feldbett krabbeln, darauf herumhopsen und mit einer Luftpeitsche ein Luftpferd antreiben. Einmal versuchten wir, eine Zigarette zu rauchen, die wir aus der Schachtel von Nancys Mutter stibitzt hatten. (Wir hätten es nicht gewagt, mehr als eine zu nehmen.) Nancy gelang das Rauchen besser als mir, da sie mehr Übung hatte.
    In diesem Keller befand sich auch eine alte Kommode, auf der etliche Büchsen mit meist eingetrockneten Farben und Lacken standen, außerdem lagen verschiedene hart gewordene Pinsel herum, Stöckchen zum Umrühren und Bretter, auf denen jemand die Farben ausprobiert oder die Pinsel ausgestrichen hatte. Auf einigen Büchsen saß der Deckel noch fest drauf, wir öffneten sie mühsam und fanden darin Farbe, die sich zu dickflüssiger Brauchbarkeit verrühren ließ. Dann verbrachten wir einige Zeit mit dem Versuch, die Pinsel biegsam zu machen, indem wir sie in die Farbe tunkten und dann gegen die Bretter schlugen, was außer einer Ferkelei nicht viel bewirkte. Eine der Büchsen enthielt jedoch Terpentin, was uns weiterhalf. Jetzt fingen wir an, mit den Borsten zu malen, die benutzbar geworden waren. Ich konnte dank meiner Mutter bis zu einem gewissen Grad lesen und schreiben, und Nancy konnte es auch, denn sie hatte die zweite Klasse beendet.
    »Du darfst erst gucken, wenn ich fertig bin«, sagte ich zu ihr und schob sie ein Stück weg. Mir war etwas eingefallen, was ich malen wollte. Sie war ohnehin beschäftigt, stocherte mit ihrem eigenen Pinsel in einer Büchse mit roter Farbe

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