Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
weitermachen, wird man Sie ins Irrenhaus bringen. Kann ich was dafür, wenn Ihr Mann Sie hasst und Sie ein Kind mit einem verhunzten Gesicht haben?«
Meine Mutter hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Sie schrie: »Ah, ah«, als würde sie von Schmerzen zerrissen. Die Frau, die zu der Zeit für uns arbeitete – Velma –, war auf die Veranda gekommen und redete auf meine Mutter ein: »Missus, kommen Sie, Missus.« Dann wandte sie sich mit lauter Stimme an Nancys Mutter.
»Gehn Sie weg. Gehn Sie in Ihr Haus. Sie Miststück.«
»Werd ich schon. Keine Sorge, werd ich. Für wen halten Sie sich eigentlich, mir zu sagen, was ich zu tun habe? Und wie gefällt es Ihnen, für ein altes Weib zu arbeiten, das nicht alle Tassen im Schrank hat?« Dann knöpfte sie sich Nancy vor.
»Wie in aller Welt soll ich das Zeug je wieder von dir abkriegen?«
Danach sprach sie wieder lauter, um sicherzugehen, dass ich sie hörte.
»Er ist ein Muttersöhnchen. Schau dir an, wie er sich an seine alte Dame klammert. Du wirst nie wieder mit ihm spielen. Mit diesem Muttersöhnchen.«
Velma auf der einen Seite und ich auf der anderen, so versuchten wir, meine Mutter ins Haus zu bringen. Sie hatte aufgehört, Lärm zu machen. Sie richtete sich auf und sprach mit unnatürlich fröhlicher Stimme, die bis zum Nebenhaus trug.
»Hol mir meine Gartenschere, ja, Velma? Wenn ich schon hier draußen bin, kann ich auch die Gladiolen stutzen. Einige sind schon regelrecht welk.«
Als sie damit fertig war, lagen alle Gladiolen auf dem Weg verstreut. Keine stand mehr, ob verblüht oder nicht.
All das muss sich an einem Samstag ereignet haben, wie ich schon sagte, weil Nancys Mutter zu Hause war und Velma da war, die sonntags nicht kam. Spätestens am Montag, da bin ich mir sicher, war das Nebenhaus leer. Vielleicht trieb Velma meinen Vater im Clubhaus oder auf dem Golfplatz oder sonst wo auf, und er kam nach Hause, war ungeduldig und grob, aber bald einverstanden. Nämlich damit einverstanden, dass Nancy und ihre Mutter auszogen. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie zogen. Vielleicht brachte er sie in einem Hotel unter, bis er etwas anderes für sie gefunden hatte. Ich glaube nicht, dass Nancys Mutter sich groß dagegen sträubte auszuziehen.
Nur langsam begriff ich, dass ich Nancy nie wiedersehen würde. Anfangs war ich wütend auf sie, und es war mir egal. Als ich mich dann nach ihr erkundigte, muss meine Mutter mich mit einer ausweichenden Antwort abgespeist haben, da sie weder mich noch sich selbst an die qualvolle Szene erinnern wollte. Bestimmt fasste sie zu der Zeit den Entschluss, mich auf ein Internat zu schicken. Jedenfalls glaube ich, dass ich noch in jenem Herbst nach Lakefield kam. Sie stellte sich wohl vor, sobald ich mich an eine Jungenschule gewöhnt hatte, würden meine Erinnerungen an eine Spielkameradin verblassen, an Wert verlieren oder sogar lächerlich werden.
Am Tag nach der Beerdigung meines Vaters überraschte meine Mutter mich mit der Frage, ob ich sie zum Essen ausführen würde (natürlich war klar, wer da wen ausführen würde, nämlich sie mich), und zwar in ein Restaurant einige Meilen weit entfernt am Seeufer, wo sie hoffte, niemanden anzutreffen, den wir kannten.
»Ich habe einfach das Gefühl, ich war seit Ewigkeiten in dieses Haus eingepfercht«, sagte sie. »Ich brauche frische Luft.«
Im Restaurant blickte sie sich diskret um und verkündete, es sei niemand da, den sie kenne.
»Leistest du mir Gesellschaft bei einem Glas Wein?«
Waren wir so weit gefahren, damit sie in der Öffentlichkeit ein Glas Wein trinken konnte?
Als der Wein gekommen war und wir bestellt hatten, sagte sie: »Es gibt etwas, was du meiner Meinung nach wissen solltest.«
Das können mit die unangenehmsten Worte sein, die ein Mensch je zu hören bekommt. Aller Voraussicht nach wird das, was man wissen sollte, bedrückend sein, und es wird eine Andeutung geben, dass andere die Bürde tragen mussten, während man selbst die ganze Zeit über davongekommen ist.
»Mein Vater ist nicht mein richtiger Vater?«, sagte ich. »Fein.«
»Sei nicht albern. Erinnerst du dich noch an deine kleine Freundin Nancy?«
Einen Augenblick lang konnte ich mich nicht erinnern. Dann sagte ich: »Vage.«
Zu der Zeit schienen alle Gespräche mit meiner Mutter eine Strategie zu erfordern. Ich musste mich sorglos, heiter und unbewegt geben. In ihrer Stimme und in ihrem Gesicht lauerte Kummer. Sie beklagte sich nie über ihre eigene missliche Lage, aber
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