Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
herum.
Ich schrieb NAZI WAHR IM KELER .
»Jetzt schau her«, sagte ich.
Sie hatte mir den Rücken zugekehrt und bearbeitete mit dem Pinsel sich selbst.
Sie sagte: »Hab zu tun.«
Als sie mir das Gesicht zuwandte, war es großzügig mit roter Farbe vollgeschmiert.
»Jetzt seh ich aus wie du«, sagte sie und strich mit dem Pinsel zu ihrem Hals hinunter. »Jetzt seh ich aus wie du.« Sie klang sehr aufgeregt, und ich dachte, sie wollte mich verhöhnen, aber in Wirklichkeit strotzte ihre Stimme vor Zufriedenheit, als habe sie es ihr ganzes Leben lang auf nichts anderes abgesehen gehabt.
Jetzt muss ich zu erklären versuchen, was in den nächsten Minuten geschah.
Mein erster Gedanke war, wie grauenhaft sie aussah.
Ich konnte nicht glauben, dass irgendein Teil meines Gesichts rot war. Was auch wirklich nicht stimmte. Die verfärbte Hälfte trug die übliche violette Muttermalfarbe, die, wie ich schon erwähnt habe, im Laufe der Jahre verblasst ist.
Aber so sah ich sie nicht in meiner Vorstellung. Ich glaubte, mein Muttermal habe einen weichen braunen Farbton, wie das Fell einer Maus.
Meine Mutter hatte nie so etwas Törichtes oder Dramatisches unternommen, wie die Spiegel aus unserem Haus zu verbannen. Aber Spiegel können zu hoch hängen, als dass ein kleines Kind sich darin sehen könnte. So war es jedenfalls im Badezimmer. Der einzige, der mir ohne weiteres mein Spiegelbild zeigte, hing in der Diele, die tagsüber im Halbdunkel lag und nachts nur schwach erleuchtet war. Dort muss ich die Vorstellung bekommen haben, dass meine Gesichtshälfte diese matte, sanfte Farbe hatte, fast wie ein Pelzchen.
An diese Vorstellung hatte ich mich gewöhnt, und das machte Nancys Anstrich so verletzend, zu so einem bösen Witz. Ich stieß sie so heftig, wie ich konnte, gegen die Kommode und rannte von ihr weg, die Treppe hinauf. Ich glaube, ich rannte, um einen Spiegel zu finden oder auch nur einen Menschen, der mir sagen konnte, dass sie unrecht hatte. Und sobald ich diese Bestätigung erhalten hatte, konnte ich sie mit meinem Hass verfolgen. Ich würde sie bestrafen. Ich hatte in dem Augenblick keine Zeit, um mir zu überlegen, wie.
Ich rannte durchs Nebenhaus – Nancys Mutter war nicht zu sehen, obwohl es ein Samstag war –, und ich knallte die Fliegengittertür zu. Ich lief über den Kiesweg, dann über die Platten zwischen den stämmigen Gladiolenreihen. Ich sah meine Mutter aus dem Korbstuhl aufstehen, wo sie auf der hinteren Veranda gelesen hatte.
»Nicht rot«, schrie ich zwischen wütenden Schluchzern. »Ich bin nicht rot.« Sie kam mit entsetztem, aber verständnislosem Gesicht die Stufen herunter. Dann kam Nancy mit ihrem schauderhaften Gesicht aus dem Nebenhaus gerannt.
Da verstand meine Mutter.
»Du scheußliches kleines Biest«, schrie sie Nancy an, mit einer Stimme, die ich noch nie gehört hatte. Eine laute, wilde, zitternde Stimme.
»Komm ja nicht näher. Untersteh dich. Du bist ein böses, böses Mädchen. Du hast keinen Funken Anstand in dir. Ist dir nie beigebracht worden …«
Nancys Mutter kam aus dem Nebenhaus, tropfnasse Haare hingen ihr in die Augen. Sie hielt ein Handtuch in den Händen.
»Gottverdammt, kann ich mir hier nicht mal die Haare waschen …«
Meine Mutter schrie auch sie an.
»Wagen Sie ja nicht, vor meinem Sohn und mir solche Wörter zu benutzen …«
»Ach, Blabla«, gab Nancys Mutter sofort zurück. »Nun hör sich das einer an, schreit wie am Spieß …«
Meine Mutter holte tief Luft.
»Ich – schreie – nicht. Ich will Ihrer grausamen Göre nur sagen, dass sie in unserem Haus nie wieder willkommen sein wird. Sie ist eine grausame, gehässige Göre, meinen kleinen Jungen für etwas zu verspotten, für das er nichts kann. Sie haben ihr nie etwas beigebracht, keine Manieren, sie war nicht mal fähig, sich bei mir zu bedanken, als ich sie an den Strand mitgenommen habe, sie kann nicht mal bitte und danke sagen, kein Wunder bei einer Mutter, die im Morgenrock rumstolziert …«
All das brach aus meiner Mutter heraus, als ströme in ihr ein Sturzbach aus Wut, Schmerz und Widersinn, der nicht enden wollte. Obwohl ich inzwischen an ihrem Kleid zerrte und »Nicht, nicht!« rief.
Dann wurde es noch schlimmer, da ihr die Tränen kamen, so dass sie kein Wort mehr hervorbrachte und nur noch zitterte.
Nancys Mutter hatte sich die nassen Haare aus dem Gesicht gestrichen, stand da und schaute sich das alles an.
»Ich will Ihnen mal was sagen«, rief sie. »Wenn Sie so
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