Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
es gab in den Geschichten, die sie erzählte, so viele unschuldige Menschen, denen übel mitgespielt worden war, so viele empörende Ungerechtigkeiten, dass ich ganz offensichtlich zumindest schwereren Herzens zu meinen Freunden und meinem glücklichen Leben zurückkehren sollte.
Ich weigerte mich, mitzuspielen. Alles, was sie wollte, war möglicherweise eine Bekundung von Mitgefühl oder vielleicht von körperlicher Zärtlichkeit. Ich weigerte mich, ihr das zu gewähren. Sie war eine gepflegte Frau und vom Alter noch nicht in Mitleidenschaft gezogen, trotzdem schrak ich vor ihr zurück, als bestehe die Gefahr einer hartnäckigen Trübsal oder eines ansteckenden Schimmelpilzes. Besonders schrak ich vor jeder Anspielung auf mein Gebrechen zurück, auf das sie ungemein gern zurückzukommen schien – die Fessel, die ich nicht abschütteln konnte, das musste ich zugeben, und die mich seit meiner Geburt an sie band.
»Du hättest wahrscheinlich davon erfahren, wenn du zu Hause gewesen wärst«, sagte sie. »Aber es passierte kurz nachdem wir dich aufs Internat geschickt haben.«
Nancy und ihre Mutter waren in eine Wohnung gezogen, die meinem Vater gehörte, am Marktplatz. Dort hatte Nancys Mutter an einem sonnigen Morgen im Frühherbst ihre Tochter im Badezimmer dabei überrascht, wie sie sich mit einer Rasierklinge die Wange aufschlitzte. Blut war auf dem Fußboden und im Waschbecken und überall auf Nancy. Aber sie wollte nicht von ihrem Vorhaben ablassen und gab auch keinen Schmerzenslaut von sich.
Woher wusste meine Mutter das alles? Ich kann nur vermuten, dass es sich um ein stadtbekanntes Drama handelte, das eigentlich vertuscht werden sollte, aber zu blutig war – und das im wahrsten Sinne des Wortes –, um nicht in allen Einzelheiten weitererzählt zu werden.
Nancys Mutter legte ihr ein Handtuch um und brachte sie irgendwie ins Krankenhaus. Es gab zu der Zeit noch keinen Krankenwagen. Wahrscheinlich winkte sie auf dem Marktplatz einfach einem Auto. Warum rief sie nicht meinen Vater an? Egal – sie tat es nicht. Die Schnitte waren nicht sehr tief, und der Blutverlust war trotz der vielen Spritzer nicht sehr hoch – kein größeres Blutgefäß war verletzt worden. Die ganze Zeit über schimpfte Nancys Mutter auf die Kleine ein und fragte sie, ob sie noch ganz richtig im Kopf sei.
»Du hast mir gerade noch gefehlt«, sagte sie immer wieder. »Eine Göre wie du.«
»Wenn es zu der Zeit Sozialarbeiter gegeben hätte«, sagte meine Mutter, »wäre das arme kleine Ding wahrscheinlich in die Obhut des Jugendamtes gekommen.«
»Es war dieselbe Wange«, sagte sie. »Wie deine.«
Ich versuchte, den Mund zu halten, so zu tun, als wüsste ich nicht, wovon sie redete. Aber ich musste sprechen.
»Die Farbe war auf ihrem ganzen Gesicht«, sagte ich.
»Ja. Aber diesmal stellte sie es sorgfältiger an und schnitt sich nur die eine Wange auf, gab sich die größte Mühe, um auszusehen wie du.«
Diesmal gelang es mir, den Mund zu halten.
»Wenn sie ein Junge gewesen wäre, wäre es noch etwas anderes gewesen. Aber wie schrecklich für ein Mädchen.«
»Plastische Chirurgie vermag heutzutage so einiges.«
»Ja, vielleicht.«
Nach einer Atempause sagte sie: »Was für tiefe Gefühle Kinder haben.«
»Sie kommen darüber hinweg.«
Sie sagte, sie habe keine Ahnung, was aus ihnen geworden sei, dem Kind oder der Mutter. Sie sagte, sie sei froh, dass ich nie nachgefragt habe, denn sie hätte mir nur höchst ungern etwas so Betrübliches erzählt, als ich noch klein war.
Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber ich muss sagen, dass meine Mutter sich im hohen Alter völlig veränderte, anzüglich und wunderlich wurde. Sie behauptete, mein Vater sei ein großartiger Liebhaber gewesen und sie selbst ein »ziemlich schlimmes Mädchen«. Sie verkündete, ich hätte »dieses Mädchen, das sich das Gesicht zerschnitten hat«, heiraten sollen, weil keiner von uns beiden sich vor dem anderen mit seiner guten Tat hätte brüsten können. Ihr wärt, kicherte sie, einer so verhunzt gewesen wie der andere.
Da hatte sie recht. Ich mochte sie in dem Augenblick sehr.
Vor ein paar Tagen wurde ich von einer Wespe gestochen, als ich unter einem der alten Bäume faulende Äpfel hervorholte. Sie hatte mich ins Augenlid gestochen, das rasch zuschwoll. Ich fuhr mich selbst ins Krankenhaus, wobei ich das andere Auge benutzte (das zugeschwollene war auf der »guten« Seite meines Gesichts), und war überrascht zu hören,
Weitere Kostenlose Bücher