Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
Reiscrispys direkt aus der Schachtel zu nehmen.
War Sharon Suttles die Geliebte meines Vaters? Hatte er ihr die Stellung besorgt und ihr das rosa Häuschen mietfrei überlassen?
Meine Mutter sprach freundlich von ihr und erwähnte nicht selten die Tragödie, die mit dem Tod des jungen Ehemannes über sie hereingebrochen war. Das jeweilige Dienstmädchen, das wir zu der Zeit hatten, wurde mit Geschenken wie Himbeeren oder neuen Kartoffeln oder enthülsten jungen Erbsen aus unserem Garten hinübergeschickt. An die Erbsen erinnere ich mich besonders gut. Ich weiß noch, wie Sharon Suttles – wie immer auf dem Sofa liegend – sie mit dem Zeigefinger in die Gegend schnippte und sagte: »Was soll ich denn mit denen anfangen?«
»Sie in Wasser auf dem Herd kochen«, sagte ich hilfsbereit.
»Im Ernst?«
Was meinen Vater anbelangt, so sah ich ihn nie mit ihr. Er ging ziemlich spät zur Arbeit und machte früh Feierabend, um sich seinen diversen sportlichen Aktivitäten zu widmen. An manchen Wochenenden fuhr Sharon mit dem Zug nach Toronto, aber sie nahm Nancy immer mit. Und danach schwärmte Nancy davon, was sie alles erlebt und gesehen hatte, wie zum Beispiel die Parade der Weihnachtsmänner.
Es gab bestimmte Zeiten, zu denen Nancys Mutter nicht zu Hause war, nicht in ihrem Kimono auf dem Sofa lag, und es steht zu vermuten, dass sie zu diesen Zeiten weder ruhte noch rauchte, sondern ihrer Arbeit im Büro meines Vaters nachging, jenem legendären Ort, den ich nie gesehen hatte und an dem ich bestimmt nicht willkommen war.
Zu solchen Zeiten – wenn Nancys Mutter arbeiten und Nancy zu Hause bleiben musste – saß eine grantige Person namens Mrs Codd herum, hörte sich Seifenopern im Radio an und war bereit, uns jederzeit aus der Küche zu vertreiben, wo sie selbst alles aß, was zur Verfügung stand. Es kam mir nie in den Sinn, dass meine Mutter, da wir ohnehin die meiste Zeit gemeinsam verbrachten, hätte anbieten können, nicht nur auf mich, sondern auch auf Nancy ein Auge zu haben, oder unser Dienstmädchen damit hätte beauftragen können, um uns Mrs Codd zu ersparen.
Heute kommt es mir so vor, als hätten wir damals jeden Tag von morgens bis abends zusammen gespielt. Ich muss anfangs etwa fünf und schließlich ungefähr achteinhalb Jahre alt gewesen sein, wobei Nancy ein halbes Jahr jünger war. Wir spielten meistens draußen – es muss zu jener Zeit oft geregnet haben, wegen meiner vielen Erinnerungen an uns in Nancys Nebenhaus zum Ärger von Nancys Mutter. Wir durften nicht in den Gemüsegarten und sollten keine Blumen knicken, aber wir tummelten uns ständig zwischen den Beerensträuchern, unter den Apfelbäumen und in dem völlig verwilderten und vermüllten Stück hinter dem Nebenhaus, wo wir unsere Luftschutzbunker und Unterstände gegen die Deutschen bauten.
Es gab tatsächlich ein Ausbildungslager der Luftwaffe nördlich von unserer Stadt, und richtige Flugzeuge flogen ständig über uns hinweg. Einmal gab es einen Absturz, aber zu unserer Enttäuschung verschwand das außer Kontrolle geratene Flugzeug im See. Und all diese Informationen über den Krieg setzten uns in die Lage, in Pete nicht nur unseren Feind vor Ort, sondern einen Nazi und in seinem Rasenmäher einen Panzer zu erkennen. Manchmal bewarfen wir ihn mit Äpfeln von dem Holzapfelbaum, unter dem wir unser Biwak aufgeschlagen hatten. Einmal beschwerte er sich bei meiner Mutter, und das kostete uns einen Ausflug an den Strand.
Sie nahm Nancy oft auf unseren Ausflügen zum Strand mit. Nicht zu dem mit der Wasserrutsche direkt unterhalb unseres Hauses, sondern zu einem kleineren, zu dem man hinfahren musste und wo es keine Rüpel gab. Tatsächlich brachte sie uns beiden das Schwimmen bei. Nancy war furchtloser und unbekümmerter als ich, was mich ärgerte, also zog ich sie unter einen hereinkommenden Brecher und hockte mich auf ihren Kopf. Sie stieß um sich, hielt den Atem an und kämpfte sich frei.
»Nancy ist ein kleines Mädchen«, schalt meine Mutter. »Sie ist ein kleines Mädchen, und du solltest sie wie eine kleine Schwester behandeln.«
Was genau das war, was ich tat. In meiner Vorstellung war sie nicht schwächer als ich. Kleiner ja, aber manchmal war das ein Vorteil. Wenn wir auf Bäume kletterten, konnte sie wie ein Äffchen an Zweigen hängen, die mich nicht trugen. Und einmal, als wir uns zankten – ich kann mich nicht erinnern, weswegen wir uns jeweils zankten –, hielt ich sie mit einem Arm fest, und sie biss
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