Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
dass ich über Nacht bleiben müsse. Es hieß, nachdem ich eine Spritze erhalten hätte, müssten beide Augen verbunden werden, um eine Überanstrengung des Auges, das sehen konnte, zu vermeiden. Ich verbrachte eine sogenannte schlaflose Nacht und wurde oft wach. Natürlich ist es in einem Krankenhaus nie völlig still, und allein in der kurzen Zeit ohne meine Augen kam es mir so vor, als sei mein Gehör feiner geworden. Als dann Schritte in mein Zimmer kamen, wusste ich, dass es die einer Frau waren, und ich hatte das Gefühl, dass sie keine Krankenschwester war.
Aber als sie sagte: »Gut, Sie sind wach. Ich bin hier, um zu lesen«, dachte ich, dass ich mich geirrt haben musste, sie war doch eine Krankenschwester. Ich streckte den Arm aus, im Glauben, sie sei gekommen, um meine Lebensfunktionen abzulesen.
»Nein, nein«, sagte sie mit ihrer leisen, eindringlichen Stimme. »Ich bin gekommen, um Ihnen vorzulesen, wenn Sie das möchten. Manchmal gefällt es den Patienten; sie langweilen sich, wenn sie mit verbundenen Augen daliegen.«
»Wählen die Patienten aus oder Sie?«
»Die Patienten, aber manchmal helfe ich ihrer Erinnerung auf die Sprünge. Ich schlage ihnen manchmal eine Geschichte aus der Bibel vor, aus einem Teil der Bibel, an den sie sich erinnern. Oder eine Geschichte aus ihrer Kinderzeit. Ich schleppe einen ganzen Stapel mit mir herum.«
»Ich mag Gedichte.«
»Sie klingen nicht sehr begeistert.«
Ich merkte, sie hatte recht, und ich wusste auch, warum. Ich habe einige Erfahrung darin, Gedichte im Radio vorzutragen und anderen ausgebildeten Stimmen zuzuhören, und es gibt einige Vortragsstile, die mir behagen, und andere, die ich abscheulich finde.
»Dann könnten wir ein Spiel machen«, sagte sie, geradeso, als hätte ich das eben laut gesagt und nicht nur gedacht. »Ich lese Ihnen ein oder zwei Zeilen vor, dann warte ich ab, ob sie die nächste Zeile hersagen können. Einverstanden?«
Mir kam der Gedanke, sie könnte eine relativ junge Person sein, bemüht, Kunden zu finden, um diese Tätigkeit erfolgreich auszuüben.
Ich sagte ja. Aber nichts in Altenglisch, bat ich mir aus.
»›Der König saß in Dunfermline …‹«, begann sie in fragendem Tonfall.
»›Und trank den blutig roten Wein …‹«, fiel ich ein, und wir fuhren gutgelaunt fort. Sie las recht gut, wenn auch in ziemlich kindlichem Vorführtempo. Ich begann, den Klang meiner eigenen Stimme zu mögen, und erlaubte mir hin und wieder ein paar schauspielerische Freiheiten.
»Hübsch«, sagte sie.
»›Dort, wo die Lilien rot erblühen/An Italiens Gestaden …‹«
»Heißt es ›erblühen‹ oder ›erglühen‹?«, fragte sie. »Ich hab jetzt kein Buch dabei, in dem das Gedicht drinsteht. Eigentlich müsste ich es wissen. Aber macht nichts, es ist entzückend. Mir hat Ihre Stimme im Radio immer gut gefallen.«
»Ist wahr? Sie haben mir zugehört?«
»Natürlich. Viele Leute haben Ihnen zugehört.«
Sie bot mir keine Zeilen mehr an, sondern ließ mich einfach machen. Sie können es sich vorstellen. »Der Strand von Dover«, »Kubla Khan«, »Ode an den Westwind«, »Die wilden Schwäne« und »Todgeweihte Jugend«. Nun, vielleicht nicht alle davon und vielleicht nicht von Anfang bis Ende.
»Sie kommen außer Atem«, sagte sie. Ihre kleine Hand legte sich rasch auf meinen Mund. Und dann lag ihr Gesicht oder eine Seite ihres Gesichts auf meinem. »Ich muss los. Hier ist noch eins, bevor ich gehe. Ich mache es schwerer, denn ich fange nicht mit dem Anfang an.
›Niemand wird lange um dich trauern,/Für dich beten, dich vermissen/Dein Platz leer …‹«
»Das habe ich noch nie gehört«, sagte ich.
»Bestimmt nicht?«
»Bestimmt nicht. Sie haben gewonnen.«
Inzwischen war mir ein Verdacht gekommen. Sie schien erregt zu sein, sogar leicht verärgert. Ich hörte die Gänse rufen, während sie über das Krankenhaus hinwegflogen. Sie unternehmen zu dieser Jahreszeit Übungsflüge, dann werden die Flüge länger, und eines Tages sind sie fort. Ich wurde wach, in jenem Zustand des Überraschtseins, der Entrüstung, wie er einem überzeugenden Traum folgt. Ich wollte zurückkehren und wieder ihr Gesicht auf meinem spüren. Ihre Wange an meiner. Aber Träume sind nicht so willfährig.
Als ich wieder sehen konnte und zu Hause war, suchte ich die Zeilen, die sie mir im Traum hinterlassen hatte. Ich ging zwei Anthologien durch, jedoch ohne sie zu finden. Ich begann zu vermuten, die Zeilen stammten womöglich gar nicht aus
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