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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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einem wirklichen Gedicht, sondern waren in dem Traum eigens erdacht worden, um mich durcheinanderzubringen.
    Erdacht von wem?
    Aber später im Herbst, als ich einige alte Bücher zusammensuchte, um sie einem Wohltätigkeitsbasar zu spenden, fiel ein vergilbtes Blatt Papier heraus, auf dem mit Bleistift geschriebene Zeilen standen. Es war nicht die Handschrift meiner Mutter, und die meines Vaters konnte es kaum sein. Wessen dann? Wer es auch war, er oder sie hatte am Schluss den Namen des Autors hingeschrieben. Walter de la Mare. Kein Titel. Kein Schriftsteller, dessen Werke ich besonders gut kenne. Aber ich muss dieses Gedicht irgendwann einmal gesehen haben, vielleicht nicht auf diesem Blatt, vielleicht in einem Lesebuch. Ich muss die Worte tief in einem Winkel meines Gedächtnisses vergraben haben. Und warum? Damit sie mich eines Tages quälten, oder damit ein hartnäckiges Kind-Frau-Gespenst mich in einem Traum mit ihnen quälte?
    Kummer gibt es nicht
    Zeit heilt nie;
    Kein Verlust, Verrat,
    Der nicht vernarbt.
    Balsam für die Seele also,
    Auch wenn das Grab
    Liebende trennen wird
    Und was sie teilen.
    Sieh, die sanfte Sonne scheint
    Der Schauer ist vorbei;
    Blumen zeigen ihren Staat,
    Der Tag so schön!
    Grüble nicht zu streng
    Über Liebe oder Pflicht;
    Freunde, lange vergessen,
    Mögen dich erwarten, wo
    Leben und Tod
    Zur Entscheidung kommen;
    Niemand wird lange um dich trauern,
    Für dich beten, dich vermissen,
    Dein Platz leer,
    Du nicht da.
    Das Gedicht deprimierte mich nicht. Auf seltsame Weise schien es für die Entscheidung zu sprechen, die ich inzwischen getroffen hatte, das Anwesen nicht zu verkaufen, sondern zu bleiben.
    Hier geschah etwas. In unserem Leben gibt es einige wenige Orte oder vielleicht nur den einen Ort, wo etwas geschah, und dann gibt es noch all die anderen Orte.
    Natürlich weiß ich, wenn Nancy und ich uns irgendwo begegnet wären – in der U-Bahn in Toronto zum Beispiel –, beide mit unseren charakteristischen Merkmalen, hätten wir aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine jener verlegenen und bedeutungslosen Unterhaltungen zustande gebracht und in aller Eile sinnlose autobiographische Fakten aufgezählt. Ich hätte die wiederhergestellte, fast normale Wange bemerkt oder die immer noch sichtbare Verletzung, aber das wäre vermutlich nicht zur Sprache gekommen. Kinder hätten erwähnt werden können. Nicht so undenkbar, ob nun wiederhergestellt oder nicht. Enkelkinder. Berufe. Vielleicht hätte ich ihr meinen nicht zu sagen brauchen. Wir wären schockiert und herzlich gewesen, beide mit nur einem Wunsch: Nichts wie weg.
    Sie meinen, das hätte etwas geändert?
    Die Antwort lautet natürlich: Ja, für eine gewisse Zeit, und nein, überhaupt nicht.

Manche Frauen
    Es verwundert mich manchmal, wie alt ich bin. Ich kann mich noch erinnern, dass die Straßen der Stadt, in der ich lebte, im Sommer mit Wasser gesprengt wurden, damit der Staub sich legte, dass Mädchen breite Wespentaillengürtel trugen und Petticoats, die von allein standen, und dass bei Dingen wie Polio und Leukämie nicht viel zu machen war. Manche, die an Polio erkrankten, erholten sich, verkrüppelt oder nicht, aber die mit Leukämie legten sich ins Bett, und nach wochen- oder monatelangem Siechtum in tragischer Atmosphäre starben sie.
    Durch solch einen Fall fand ich in den Sommerferien, als ich dreizehn war, meine erste Anstellung. Der junge Mr Crozier (Bruce) war heil aus dem Krieg heimgekommen, in dem er als Kampfpilot diente, hatte das College besucht, Geschichte studiert und sein Examen gemacht, hatte geheiratet, und jetzt hatte er Leukämie. Er war mit seiner Frau zurückgekommen, um bei seiner Stiefmutter zu wohnen, der alten Mrs Crozier. Die junge Mrs Crozier (Sylvia) war an zwei Nachmittagen in der Woche nicht da, weil sie vierzig Meilen weit entfernt am selben College, an dem sie ihren Mann kennengelernt hatte, Sommerkurse gab. Ich wurde angestellt, um nach dem jungen Mr Crozier zu schauen, solange sie fort war. Er lag im vorderen Eckschlafzimmer im ersten Stock, und er konnte immer noch allein ins Badezimmer gehen. Ich hatte nichts weiter zu tun, als ihm frisches Wasser zu bringen, die Rouleaus herauf- oder herunterzuziehen und nachzusehen, was er wollte, wenn er mit dem Glöckchen auf seinem Nachttisch läutete.
    Meistens wollte er, dass der Ventilator umgestellt wurde. Er mochte zwar den Luftzug, den er schuf, aber sein Geräusch störte ihn. Also wollte er den Ventilator eine Weile lang in seinem

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