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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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konnte.
    Ich tat es. Ich fand einen großen, schweren, altmodischen Schlüssel.
    Er wollte, dass ich aus seinem Zimmer hinausging, die Tür zumachte und abschloss. Dann den Schlüssel an einem sicheren Platz versteckte, vielleicht in der Tasche meiner Shorts.
    Ich sollte niemandem sagen, was ich getan hatte.
    Ich sollte niemandem sagen, dass ich den Schlüssel hatte, bis seine Frau nach Hause kam, und dann sollte ich ihn ihr geben. Hatte ich das verstanden?
    Sicher.
    Er dankte mir.
    Schon gut.
    Während er mit mir redete, lag ein Schweißfilm auf seinem Gesicht, und seine Augen glänzten, als habe er Fieber.
    »Niemand darf herein.«
    »Niemand darf herein«, wiederholte ich.
    »Weder meine Stiefmutter noch … Roxanne. Nur meine Frau.«
    Ich schloss die Tür von außen ab und steckte den Schlüssel in die Tasche meiner Shorts. Aber dann befürchtete ich, er könnte durch den dünnen Baumwollstoff zu sehen sein, also ging ich hinunter in den hinteren Salon und versteckte ihn zwischen den Seiten von
I promessi sposi
. Ich wusste, dass Roxanne und die alte Mrs Crozier mich nicht hören würden, weil die Massage im Gange war und Roxanne ihre Berufsstimme benutzte.
    »Heute habe ich alle Hände voll damit zu tun, Sie von diesen Knoten zu befreien.«
    Und ich hörte die Stimme der alten Mrs Crozier, voll ihres neuen Missvergnügens.
    »… schlagen aber heute härter zu als sonst.«
    »Na, muss ich doch.«
    Als ich die Treppe wieder hinaufging, kam mir ein weiterer Gedanke.
    Wenn er und nicht ich die Tür abgeschlossen hatte – was die anderen offenbar denken sollten – und ich dabei wie üblich auf der obersten Stufe saß, hätte ich ihn bestimmt gehört und etwas gerufen und damit die anderen im Haus aufgestört. Also ging ich wieder hinunter und setzte mich auf die unterste Stufe der Vordertreppe, denn von diesem Platz aus hätte ich es nicht unbedingt hören müssen.
    Die Massage schien heute kräftig und ohne die üblichen Mätzchen auszufallen; jedenfalls stichelten und witzelten sie nicht wie sonst. Bald hörte ich Roxanne die Hintertreppe hinauflaufen.
    Sie blieb stehen. Sie sagte: »He, Bruce.«
    Bruce.
    Sie rüttelte am Türknauf.
    »Bruce.«
    Dann musste sie den Mund ans Schlüsselloch gelegt haben, damit nur er und niemand anders sie hörte. Ich konnte nicht genau verstehen, was sie sagte, aber ich bekam mit, dass sie ihn anflehte. Erst neckte, dann anflehte. Nach einer Weile hörte sie sich an, als bete sie.
    Dann gab sie das auf und fing an, mit den Fäusten an die Tür zu hämmern, nicht allzu laut, aber dringlich.
    Nach einer Weile hörte sie auch damit auf.
    »Komm schon«, sagte sie mit fester Stimme. »Wenn du bis zur Tür gekommen bist, um sie abzuschließen, kannst du auch herkommen und sie wieder aufschließen.«
    Nichts passierte. Sie trat ans Geländer, schaute hinunter und sah mich.
    »Hast du Mr Crozier sein Wasser gebracht?«
    Ich sagte ja.
    »Da war die Tür also noch nicht abgeschlossen?«
    Nein.
    »Hat er irgendwas zu dir gesagt?«
    »Er hat nur danke gesagt.«
    »Jetzt hat er seine Tür abgeschlossen und will mir nicht antworten.«
    Ich hörte den Stock der alten Mrs Crozier die Hintertreppe hinaufstapfen.
    »Was ist denn hier los?«
    »Er hat sich eingeschlossen und will mir nicht antworten.«
    »Was heißt, er hat sich eingeschlossen? Wahrscheinlich klemmt die Tür. Der Wind hat sie zugeschlagen, und jetzt klemmt sie.«
    An dem Tag wehte kein Wind.
    »Probieren Sie’s doch selbst«, sagte Roxanne. »Sie ist abgeschlossen.«
    »Ich wusste gar nicht, dass es einen Schlüssel für diese Tür gibt«, sagte die alte Mrs Crozier, als könnte ihr Unwissen die Tatsache aus der Welt schaffen. Dann drehte sie mechanisch am Türknauf und sagte: »Scheint abgeschlossen zu sein.«
    Das hat er einkalkuliert, dachte ich. Dass sie mich nicht verdächtigen würden, sondern denken würden, er stecke dahinter. Was er ja auch tat.
    »Wir müssen da rein«, sagte Roxanne. Sie stieß mit dem Fuß gegen die Tür.
    »Hören Sie auf«, sagte die alte Mrs Crozier. »Wollen Sie die Tür ruinieren? Da kommen Sie sowieso nicht durch, die ist aus massiver Eiche. Alle Türen in diesem Haus sind aus massiver Eiche.«
    »Dann müssen wir die Polizei holen.«
    Schweigen.
    »Die können zum Fenster raufklettern«, sagte Roxanne.
    Die alte Mrs Crozier holte Luft und sprach mit Entschiedenheit.
    »Sie wissen ja nicht, was Sie da sagen. Ich will nicht die Polizei im Haus haben. Ich will nicht, dass die am Haus

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