Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
schon.«
»Mrs Hoy? Ja. Zu dumm.«
Als wir den Hügel hinunterfuhren, den alle Croziers’ Hill nannten, sagte sie: »Ich glaube nicht, dass er ihnen wirklich Angst einjagen wollte. Weißt du, wenn man krank ist, lange Zeit krank, dann kann es sein, dass man die Gefühle anderer Menschen nicht mehr wahrnimmt. Man ist unter Umständen gegen andere Menschen eingenommen, sogar, wenn sie es gut meinen und alles tun, was sie können, um zu helfen. Mrs Crozier und Mrs Hoy haben bestimmt ihr Bestes versucht, aber Mr Crozier wollte sie einfach nicht mehr um sich haben. Er hatte einfach genug von ihnen. Verstehst du?«
Ihr schien nicht bewusst zu sein, dass sie lächelte, als sie das sagte.
Mrs Hoy.
Hatte ich den Namen je zuvor gehört?
Und so sanft und respektvoll ausgesprochen, allerdings mit majestätischer Herablassung.
Glaubte ich, was Sylvia sagte?
Ich glaubte, es war das, was er ihr gesagt hatte.
Ich sah Roxanne an jenem Tag noch einmal. Und zwar während Sylvia auf mich einredete und mir diesen neuen Namen zuwarf, Mrs Hoy.
Sie – Roxanne – saß in ihrem Auto und hatte an der ersten Kreuzung am Fuße von Croziers’ Hill gehalten, um uns vorbeifahren zu sehen. Ich drehte mich nicht nach ihr um, denn es war alles zu verwirrend, bei dem, was Sylvia zu mir sagte.
Natürlich konnte Sylvia nicht wissen, wessen Auto das war. Sie konnte nicht wissen, dass Roxanne zurückgekommen sein musste, um eine Vorstellung davon zu kriegen, was passiert war. Oder vielleicht war sie die ganze Zeit über, seit sie das Haus der Croziers verlassen hatte, um den Block gefahren.
Roxanne erkannte wahrscheinlich Sylvias Auto. Sie muss mich gesehen haben. An der freundlichen, ernsten, von leisem Lächeln begleiteten Art, in der Sylvia mit mir redete, muss sie gemerkt haben, dass alles in Ordnung war.
Sie bog nicht um die Ecke und fuhr nicht wieder den Hügel hinauf zum Haus der Croziers. Oh nein. Sie fuhr über die Kreuzung – ich beobachtete sie im Rückspiegel – zum östlichen Teil der Stadt, wo während des Krieges die Behelfshäuser errichtet worden waren. Dort wohnte sie.
»Spür mal die Brise«, sagte Sylvia. »Vielleicht bringen uns diese Wolken bald Regen.«
Die Wolken waren hoch und leuchtend weiß; sie sahen überhaupt nicht nach Regen aus, und es ging eine Brise, weil wir in einem fahrenden Auto mit heruntergelassenen Fenstern saßen.
Ich verstand recht gut, welch ein Machtkampf zwischen Sylvia und Roxanne stattgefunden hatte, aber ich hatte Mühe, an den fast schon nicht mehr vorhandenen Preis zu denken, um den es dabei gegangen war, an Mr Crozier – und zu denken, dass er gegen Ende seines Lebens die Willenskraft aufgebracht hatte, eine Entscheidung zu treffen und damit auf etwas zu verzichten. Fleischeslust an der Schwelle des Todes – oder auch wahre Liebe –, das waren Dinge, vor denen mir schauderte.
Sylvia brachte Mr Crozier in ein gemietetes Ferienhaus am See, wo er starb, bevor die Bäume ihr Laub abwarfen.
Die Familie Hoy zog weiter, wie es die Familien von Autoschlossern oft taten.
Meine Mutter kämpfte mit einer Krankheit, die sie verkrüppelte und all ihren Träumen vom großen Geld ein Ende machte.
Dorothy Crozier erlitt einen Schlaganfall, erholte sich aber und kaufte Unmengen von Halloween-Süßigkeiten für die Kinder, deren älteren Brüdern und Schwestern sie die Tür gewiesen hatte.
Ich wurde erwachsen und alt.
Kinderspiel
Ich nehme an, bei uns zu Hause wurde darüber geredet, hinterher.
Wie traurig, wie
schrecklich
. (Meine Mutter.)
Es hätte jemand zur Aufsicht da sein müssen. Wo waren die Betreuer? (Mein Vater.)
Kann es sein, dass meine Mutter, jedes Mal, wenn wir an dem gelben Haus vorbeigingen, zu mir sagte: »Weißt du noch? Weißt du noch, welche Angst du vor ihr hattest? Vor dem armen Ding.«
Meine Mutter hatte die Angewohnheit, an den Schwächen meines fernen frühkindlichen Stadiums festzuhalten, ja sie sogar zu hüten wie einen Schatz.
Als Kind wird man jedes Jahr eine andere Person. Meistens geschieht das im Herbst, wenn man wieder zur Schule geht, seinen Platz in einer höheren Klasse einnimmt und die Unordnung, die Lethargie der Sommerferien hinter sich lässt. Dann nimmt man die Veränderungen am deutlichsten wahr. Später gehen die Veränderungen zwar weiter, aber ohne dass man sie an einem bestimmten Monat oder Jahr festmachen könnte. Lange Zeit fällt die Vergangenheit leicht von einem ab, scheinbar automatisch, als ob es
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