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Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sie das scherzhaft zu meinen.) Roxanne mochte bei einem ihrer Züge juchzen oder auch aufstöhnen, wenn jemand über einen ihrer Steine sprang, aber sie achtete immer darauf, den Patienten zu schonen. Ihr Körper blieb reglos, und sie setzte ihre Steine hin wie Federn. Ich versuchte es ihr gleichzutun, denn wenn ich es nicht tat, weiteten sich ihre Augen, und sie warf mir einen warnenden Blick zu. Alles, ohne ihr Grübchen zu verlieren.
    Ich erinnerte mich daran, dass die junge Mrs Crozier, Sylvia, im Auto zu mir gesagt hatte, ihr Mann möge Unterhaltungen nicht. Sie ermüdeten ihn, und wenn er müde sei, könne er ungemütlich werden. Also dachte ich: Wenn er je Anlass hatte, ungemütlich zu werden, dann jetzt. Gezwungen, auf seinem Sterbebett ein albernes Spiel zu spielen, wo man doch sein Fieber durch die Bettwäsche fühlen konnte.
    Aber Sylvia musste sich geirrt haben. Er hatte mehr Geduld und Höflichkeit entwickelt, als ihr vielleicht bewusst war. Untergeordneten Personen gegenüber – und Roxanne war gewiss eine untergeordnete Person – gab er sich inzwischen tolerant und sanft. Während er doch bestimmt nur hier liegen wollte, um über seine Lebenswege nachzudenken und sich für seine Zukunft zu rüsten.
    Roxanne tupfte ihm den Schweiß von der Stirn: »Regen Sie sich nicht auf, Sie haben noch nicht gewonnen.«
    »Roxanne«, sagte er. »Roxanne. Wissen Sie, wessen Name das war, Roxanne?«
    »Hmm?«, fragte sie, und ich mischte mich ein. Ich konnte nicht anders.
    »Die Frau von Alexander dem Großen hieß so.«
    Mein Kopf war ein Elsternnest, vollgestopft mit solchen glänzenden Wissensschnipseln.
    »Ach, ja?«, sagte Roxanne. »Und wer soll das sein? Der große Alexander?«
    Mir wurde etwas klar, als ich Mr Crozier in dem Augenblick ansah. Etwas Verstörendes, Trauriges.
    Es gefiel ihm, dass sie keine Ahnung hatte. Das merkte ich. Es gefiel ihm. Ihr Unwissen bereitete ihm einen Genuss, der ihm auf der Zunge zerging wie ein Sahnebonbon.
     
    Am ersten Tag hatte sie Shorts getragen, so wie ich, aber beim nächsten Mal und stets danach trug Roxanne ein Kleid aus steifem und glänzendem hellgrünen Stoff. Man hörte es rascheln, wenn sie die Treppe hinauflief. Sie brachte ein weiches Polster für Mr Crozier an, damit er sich nicht wundlag. Sie war jedes Mal unzufrieden damit, wie sein Bett gemacht war, und musste es neu ordnen. Aber wie sehr sie auch schimpfte, ihre Verrichtungen störten ihn nie, und er musste zugeben, dass er sich danach wohler fühlte.
    Sie war nie um etwas verlegen. Manchmal kam sie ausgerüstet mit Rätseln. Oder Witzen. Einige der Witze waren das, was meine Mutter Zoten nannte und in unserem Haus nicht zuließ, außer wenn sie von bestimmten Verwandten meines Vaters kamen, die praktisch keinen anderen Gesprächsstoff kannten.
    Diese Witze begannen gewöhnlich mit ernsthaft klingenden, aber absurden Fragen.
    Habt ihr schon mal von der Nonne gehört, die einen Fleischwolf kaufen ging?
    Habt ihr schon mal gehört, was die Braut und der Bräutigam sich vor ihrer Hochzeitsnacht zum Nachtisch bestellten?
    Die Antworten waren immer zweideutig, so dass der Erzähler so tun konnte, als sei er entsetzt, und die Lacher der schmutzigen Phantasie seiner Zuhörer zuschreiben konnte.
    Und nachdem Roxanne uns alle an diese Witze gewöhnt hatte, ging sie dazu über, Witze einer Kategorie zu erzählen, von deren Existenz meine Mutter wahrscheinlich noch nicht einmal wusste, denn oft ging es darin um Sex mit Schafen oder Hühnern oder Melkmaschinen.
    »Ist das nicht schrecklich?«, sagte sie immer zum Schluss. Sie sagte, sie würde dieses Zeug gar nicht kennen, wenn ihr Mann es nicht aus der Werkstatt nach Hause brächte.
    Die Tatsache, dass die alte Mrs Crozier kicherte, schockierte mich ebenso wie die Witze selbst. Ich dachte, dass sie vielleicht die Pointe nicht mitbekam, sondern es einfach genoss, allem zuzuhören, was Roxanne so erzählte. Sie saß mit einem verschmitzten und dabei geistesabwesenden Lächeln da, als habe sie ein Geschenk bekommen, von dem sie wusste, dass es ihr gefallen würde, noch bevor sie es ausgepackt hatte.
    Mr Crozier lachte nicht, aber der lachte eigentlich nie. Er zog nur tadelnd die Augenbrauen hoch, als finde er Roxanne empörend, aber trotz allem liebenswert. Das konnte an seinen guten Manieren liegen oder auch an Dankbarkeit für ihre Bemühungen, sie mochten sein, wie sie wollten.
    Ich selber achtete darauf, jedes Mal zu lachen, damit Roxanne mich nicht als

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