Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
prüdes Küken abtat, das keine Ahnung hatte.
Ihr anderer Beitrag zur Unterhaltung waren Geschichten aus ihrem Leben. Sie war aus einem trostlosen Nest im Norden von Ontario nach Toronto gekommen, um ihre ältere Schwester zu besuchen, und hatte einen Job im Kaufhaus Eaton gefunden, anfangs machte sie in der Cafeteria sauber, dann fiel sie einem der Manager auf, weil sie schnell arbeitete und immer fröhlich war, und plötzlich fand sie sich als Verkäuferin in der Handschuh-Abteilung wieder. (Ich fand, es hörte sich bei ihr an wie ihre Entdeckung durch die Warner Brothers.) Und wer anders als Barbara Ann Scott, die Eiskunstläuferin, kam eines Tages herein und kaufte weiße Glacéhandschuhe, die bis zum Ellbogen reichten?
Übrigens hatte Roxannes Schwester so viele Verehrer, dass sie eine Münze warf, um zu entscheiden, mit wem sie ausgehen würde, was sie fast jeden Abend tat, und sie beauftragte Roxanne damit, die Verschmähten mit bedauernden Worten an der Vordertür der Pension zu empfangen, während sie selbst sich mit ihrem Auserwählten zur Hintertür hinausschlich. Roxanne sagte, vielleicht sei sie so zu ihrem flotten Mundwerk gekommen. Und sehr bald kamen einige der Jungs, die sie dadurch kennengelernt hatte, um sie auszuführen, nicht ihre Schwester. Sie wussten nicht, dass sie eigentlich noch zu jung war.
»Ich hab mich prima amüsiert«, sagte sie.
Ich begann zu verstehen, dass es bestimmte redselige Menschen gab – bestimmte Mädchen –, denen die Leute gerne zuhörten, nicht wegen der Dinge, die sie, die Mädchen, zu sagen hatten, sondern wegen der Freude, die sie daran hatten, sie zu sagen. Eine Freude an sich selbst, ein Leuchten auf ihren Gesichtern, eine Überzeugung, dass alles, was sie erzählten, bemerkenswert war, und dass sie gar nicht anders konnten, als unterhaltsam zu sein. Es mochte andere Leute geben – Leute wie mich –, die diese Einschätzung nicht teilten, aber das war deren Problem. Und Leute wie ich gehörten ohnehin nicht zu dem Publikum, auf das diese Mädchen aus waren.
Mr Crozier saß von Kissen gestützt und sah ganz so aus, als sei er glücklich. Glücklich, einfach die Augen zu schließen und sie reden zu lassen, dann die Augen zu öffnen und sie vorzufinden, wie ein Schokoladenhäschen am Ostermorgen. Und dann mit offenen Augen jedem Zucken ihrer glänzenden Lippen und jedem Wippen ihres prächtigen Hinterteils zu folgen.
Die alte Mrs Crozier schaukelte leicht vor und zurück in ihrem sonderbaren Zustand der Zufriedenheit.
Roxanne verbrachte oben ebenso viel Zeit wie unten mit der Massage. Ich fragte mich, ob sie dafür bezahlt wurde. Wenn nicht, wie konnte sie es sich leisten, sich so viel Zeit zu nehmen? Und wer anders als die alte Mrs Crozier konnte sie bezahlen?
Warum?
Damit ihr Stiefsohn es bequem hatte und glücklich war? Das bezweifelte ich.
Damit sie selbst auf sonderbare Art unterhalten wurde?
Eines Nachmittags, als Roxanne sein Zimmer verlassen hatte, sagte Mr Crozier, er habe mehr Durst als sonst. Ich ging hinunter, um ihm ein Glas Wasser aus dem Krug zu holen, der immer im Kühlschrank stand. Roxanne packte gerade, um nach Hause zu fahren.
»Ich hatte gar nicht vor, so lange zu bleiben«, sagte sie. »Ich will auf keinen Fall dieser Lehrerin begegnen.«
Einen Augenblick lang verstand ich nicht.
»Du weißt schon. Syl-vi-a. Die ist auch nicht gerade verrückt nach mir, oder? Hat sie mich je erwähnt, wenn sie dich nach Hause fährt?«
Ich sagte, Sylvia habe mir gegenüber nie Roxannes Namen erwähnt, auf keiner unserer Fahrten. Warum sollte sie auch?
»Dorothy sagt, sie weiß nicht mit ihm umzugehen. Sie sagt, ich mache ihn sehr viel glücklicher als sie. Dorothy sagt das. Würde mich nicht wundern, wenn sie’s ihr sogar ins Gesicht gesagt hat.«
Ich dachte daran, wie Sylvia jeden Nachmittag, wenn sie nach Hause kam, in das Zimmer ihres Mannes hinaufeilte, noch bevor sie mit mir oder ihrer Schwiegermutter gesprochen hatte, ihr Gesicht von Eifer und Verzweiflung gerötet. Ich wollte etwas darüber sagen – ich wollte sie irgendwie verteidigen, aber ich wusste nicht, wie. Und selbstbewusste Menschen wie Roxanne schienen mir immer überlegen zu sein, wenn auch nur dadurch, dass sie mir nicht zuhörten.
»Hat sie ganz bestimmt nie was über mich gesagt?«
Ich wiederholte: Nein, nie. »Sie ist müde, wenn sie nach Hause kommt.«
»Ach, ja? Jeder ist müde. Aber manche lernen es, sich so zu verhalten, als wären sie’s
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