Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)
überlegte, um nicht anhalten zu müssen, war, dass die Sonne dann noch tiefer stehen und mich blenden würde, sobald ich aus dem Dunst hinausgelangt war, der selbst bei schönstem Wetter über der Stadt liegt.
An der ersten Tankstelle, nachdem ich die Abzweigung nach Guelph genommen hatte, hielt ich an und ging mit steifen, zittrigen Beinen auf die Damentoilette. Danach tankte ich und fragte beim Bezahlen nach dem Weg zur Kathedrale. Die Anweisungen waren nicht sehr klar, aber mir wurde gesagt, sie stehe auf einem Hügel und sei von überall in der Stadtmitte zu finden.
Was natürlich nicht stimmte. Obwohl ich sie von fast überallher sehen konnte. Eine Schar zarter Fialen, die sich aus vier herrlichen Türmen erhoben. Ein schönes Bauwerk, wo ich nur ein mächtiges erwartet hatte. Es war sicher auch mächtig, eine große, beherrschende Kathedrale für eine so relativ kleine Stadt (obwohl mir später jemand sagte, dass es eigentlich gar keine Kathedrale war).
Konnte das die Kirche sein, in der Charlene geheiratet hatte?
Nein. Natürlich nicht. Sie war in ein Ferienlager der Vereinigten Kirche geschickt worden, und es hatte dort keine katholischen Mädchen gegeben, wenn auch eine ganze Reihe verschiedener Protestantinnen. Und dann war da noch die Sache mit C., der nichts wusste.
Sie hätte insgeheim konvertieren können. Seitdem.
Ich fand ohne weiteres den Parkplatz der Kathedrale, saß da und überlegte, was ich tun sollte. Ich hatte eine sportliche Hose und eine Jacke an. Meine Vorstellung von dem, was in einer katholischen Kirche – einer katholischen Kathedrale – erwartet wurde, war so veraltet, dass ich nicht einmal genau wusste, ob ich korrekt gekleidet war. Ich versuchte mich an Besichtigungen großer Kirchen in Europa zu erinnern. War da nicht etwas mit bedeckten Armen? Kopftüchern, Röcken?
Welch eine helle, tiefe Stille oben auf diesem Hügel herrschte. Es war April, an den Bäumen war noch kein Blatt zu sehen, aber die Sonne stand immerhin schon hoch am Himmel. Schnee, grau wie das Pflaster, lag noch in einem flachen Wall auf dem Parkplatz.
Die Jacke, die ich trug, war zu leicht für den Abend, oder vielleicht war es hier kühler, der Wind stärker als in Toronto.
Die Kirche konnte um diese Zeit bereits abgeschlossen sein, leer und abgeschlossen.
Das große Hauptportal schien es zu sein. Ich ging gar nicht erst die Stufen dahin hinauf, um es zu probieren, sondern beschloss, zwei alten Frauen – nicht älter als ich – zu folgen, die gerade die lange Treppe von der Straße heraufgekommen waren, jene Portalstufen vollkommen außer Acht ließen und einer bequemeren Seitentür zustrebten.
Drinnen befanden sich noch weitere Menschen, vielleicht zwei oder drei Dutzend, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass sie zu einem Gottesdienst versammelt waren. Sie saßen hier und da in den Kirchenbänken, einige knieten, einige plauderten. Die Frauen vor mir tauchten die Hand kurz ins marmorne Weihwasserbecken, ohne überhaupt hinzuschauen, und begrüßten – mit recht lauter Stimme – einen Mann, der Körbe auf einem Tisch aufstellte.
»Sieht draußen viel wärmer aus, als es ist«, sagte eine von ihnen, und der Mann erwiderte: »Der Wind beißt einem die Nase ab.«
Ich erkannte die Beichtstühle. Wie einzelne kleine Hütten oder große Kinderspielhäuser im gotischen Stil, mit viel dunklem Schnitzwerk und dunkelbraunen Vorhängen. Überall sonst leuchtete und glänzte es. Das hohe Deckengewölbe strahlte in fast himmlischem Blau, an den anderen Deckengewölben – jenen, die mit den Außenmauern verbunden waren – prangten Heiligenbilder in goldfarbenen Medaillons. Die Sonne fiel zu dieser Tageszeit auf die hohen bunten Fenster und verwandelte sie in Säulen aus Juwelen. Ich ging möglichst unauffällig einen Gang hinunter und versuchte, einen Blick auf den Altar zu werfen, aber da der Altarraum sich in der westlichen Wand befand, war er so hell, dass ich nichts erkennen konnte. Über den Fenstern sah ich jedoch gemalte Engel. Scharen von Engeln, alle frisch, zart und rein wie Licht.
Es war ein höchst beeindruckender Ort, aber niemand schien davon überwältigt zu sein. Die plaudernden Damen plauderten weiter, leise, aber nicht im Flüsterton. Andere verneigten und bekreuzigten sich gewohnheitsmäßig, knieten sich dann hin und widmeten sich ihrem Anliegen.
Wie ich es auch tun müsste. Ich schaute mich nach einem Priester um, aber es war keiner zu sehen. Priester hatten offenbar wie
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