Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition)

Titel: Zu viel Glück: Zehn Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
und ein spitzes, verfallenes Gesicht, einen Hühnerhals, für den das Krankenhausnachthemd eine Meile zu weit war. Dünnes Kraushaar – immer noch braun, ungefähr einen halben Zentimeter lang – auf dem Schädel. Keine Spur von Charlene.
    Ich hatte schon zuvor die Gesichter Sterbender gesehen. Die Gesichter meiner Mutter und meines Vaters, sogar das Gesicht des Mannes, den zu lieben ich Angst gehabt hatte. Ich war nicht überrascht.
    »Sie schläft jetzt«, sagte die Schwester. »Sie hat so gehofft, dass Sie kommen.«
    »Sie ist nicht bewusstlos?«
    »Nein. Sie schläft.«
    Ja, jetzt sah ich es, da war etwas von Charlene. Was war es? Vielleicht ein Zucken, ein zuversichtliches, spielerisches Einziehen eines Mundwinkels.
    Die Schwester redete mit ihrer leisen, glücklichen Stimme auf mich ein. »Ich weiß nicht, ob sie Sie erkennen würde«, sagte sie. »Aber sie hat gehofft, dass Sie kommen. Da ist etwas für Sie.«
    »Wird sie bald wach?«
    Ein Achselzucken. »Wir müssen ihr wegen der Schmerzen oft Spritzen geben.«
    Sie zog die Nachttischschublade auf.
    »Das hier. Sie hat mir gesagt, ich soll es Ihnen geben, wenn es zu spät für sie ist. Sie wollte nicht, dass ihr Mann es Ihnen gibt. Jetzt sind Sie hier, da wäre sie froh.«
    Ein zugeklebter Umschlag mit meinem Namen darauf, in zittrigen Druckbuchstaben.
    »Nicht ihr Mann«, sagte die Schwester mit einem Augenzwinkern und einem immer breiteren Lächeln. Witterte sie etwas Unerlaubtes, ein Frauengeheimnis, eine alte Liebe?
    »Kommen Sie morgen wieder«, sagte sie. »Wer weiß? Ich werd’s ihr sagen, wenn’s möglich ist.«
    Ich las den Brief, sobald ich unten in der Eingangshalle war. Charlene hatte es geschafft, mit fast normaler Schrift zu schreiben, nicht so fahrig wie die krakeligen Buchstaben auf dem Umschlag. Natürlich konnte es sein, dass sie erst den Brief geschrieben und in den Umschlag gesteckt, dann den Umschlag zugeklebt und weggelegt hatte, mit der Absicht, ihn mir selbst zu geben. Erst später mochte sie es für nötig gehalten haben, meinen Namen draufzusetzen.
    Marlene. Ich schreibe das für den Fall, dass ich irgendwann nicht mehr sprechen kann. Bitte tu, worum ich Dich ersuche. Bitte fahre nach Guelph und gehe in die Kathedrale und frage nach Pater Hofstrader. Die Kathedrale »Unsere Jungfrau der immerwährenden Hilfe«. Sie ist so groß, dass Du den Namen nicht brauchst. Pater Hofstrader. Er wird wissen, was zu tun ist. C. kann ich nicht darum bitten, und ich will nicht, dass er es je erfährt. Pater H. weiß Bescheid, und ich habe ihn gefragt, und er sagt, es ist möglich, mir zu helfen. Marlene, bitte tu das, Gott segne Dich. Nichts über Dich.
    C. Das musste ihr Mann sein. Er weiß es nicht. Natürlich nicht.
    Pater Hofstrader.
    Nichts über mich.
    Es stand mir frei, das zu zerknüllen und wegzuwerfen, sobald ich auf die Straße gelangte. Was ich auch tat, ich warf den Umschlag fort und sah zu, wie der Wind ihn in den Rinnstein der University Avenue wehte. Dann fiel mir ein, dass der Brief gar nicht in dem Umschlag war; er steckte immer noch in meiner Tasche.
    Ich nahm mir vor, nie wieder in das Krankenhaus zu gehen. Und nie nach Guelph zu fahren.
    Kit, so hieß ihr Mann. Jetzt erinnerte ich mich. Sie gingen segeln. Christopher. Kit. Christopher. C.
    Als ich nach Hause kam, ertappte ich mich dabei, dass ich mit dem Fahrstuhl in die Garage hinunterfuhr und nicht hoch zu meiner Wohnung. So angezogen, wie ich gerade war, stieg ich in mein Auto, fuhr hinaus auf die Straße und schlug die Richtung zum Gardiner Expressway ein.
    Der Gardiner Expressway, dann Highway 427 , dann Highway 401 . Inzwischen hatte der Berufsverkehr eingesetzt, eine schlechte Zeit, um aus der Stadt zu gelangen. Ich hasse es, dann zu fahren, und tue es zu selten, um mich dabei sicher zu fühlen. Mein Tank war nicht einmal mehr halb voll, und darüber hinaus musste ich auf die Toilette. In der Gegend von Milton, dachte ich, kann ich vom Highway runterfahren, auftanken, auf die Toilette gehen und mir alles noch mal überlegen. Im Augenblick konnte ich nichts weiter tun als das, was ich tat, nach Norden und dann nach Westen fahren.
    Ich bog nicht ab. Ich ließ die Ausfahrt nach Mississauga und die Ausfahrt nach Milton hinter mir. Ich sah ein Schild, das mir sagte, wie viele Kilometer es bis Guelph waren, rechnete sie im Kopf grob in Meilen um, wie ich es immer tun muss, und kam zu dem Schluss, dass mein Benzin reichen würde. Die andere Ausrede, die ich mir

Weitere Kostenlose Bücher