Zu viele Morde
beschuldigte Erica desMordes, doch das wurde als Tobsucht einer von Schmerz erfüllten Frau abgetan, obwohl sein Testament Gründe dafür geliefert hätte. Der Großteil seines Vermögens ging an die Witwe, aber die Summe von 50 000 $ wurde Erica Davenport zuteil.
Erica ging an die Smith, wählte Ökonomie als Hauptfach und hatte hervorragende Noten in Mathematik, Englischer Literatur und …
Russisch
? Wurde an der Smith sogar Russisch gelehrt?
Carmine blätterte zurück in ihre Kindheit, wobei er sich dafür verfluchte, einige der Aussagen nur überflogen zu haben. Aber nein, er fand keinen einzigen Hinweis, Davenport war nie Davenski, so viel war sicher. Er wühlte sich weiter durch die verschiedenen Schulen, die Erica besucht hatte – dann entsann er sich Delias und rief sie herein.
»Du hast ein besseres Auge für solche Dinge«, sagte er und gab ihr die Jahre durch, die Erica bei Shawcross verbracht hatte. »Sieh, ob du irgendeinen Bezug zu einem Russen oder der russischen Sprache finden kannst.«
Delia eilte davon, und Carmine schwirrte der Kopf. Das FBI wusste, dass diese Tatverdächtige Russisch gelernt hatte, was sie mit Sicherheit an die Spitze ihrer Odysseus-Verdächtigen katapultierte. Warum also hatten sie ihm nichts davon erzählt? »Weil«, brummelte er in das leere Zimmer, »du ein Provinzidiot bist, ein dumpfer Spaghettifresser-Bulle in einem Ministaat voller Exzentriker. Das nächste Mal knöpfe ich mir den FBI-Kerl richtig vor.«
»Nein, nein«, sagte Delia, als sie zurückkam, »du tust dem Mann Unrecht. Es steht in der Akte.«
»Er glaubt, ich bin zu dumm zum Lesen.«
»Dann ist das sein Fehler, oder?« Nachdem sie das Durcheinander auf seinem Schreibtisch geordnet hatte, setzte siesich und händigte ihm die Unterlagen aus, die er ihr gegeben hatte. »Es ist eine flüchtige Bemerkung von – ausgerechnet vom Milchmann. Nun, er ist eindeutig unterbelichtet, und man bekommt den Eindruck, dass er in Erica verknallt war. Es steht in den ausufernden Beschreibungen ihrer Männerfreundschaften – hier muss ich abschweifen und sagen, dass sie nicht fundiert wirken, weswegen niemand eine Anmerkung dazu gemacht hat. Warum haben sie einige Worte oder Sätze durchgestrichen? Jeder mit ein bisschen Phantasie kann sie wieder ausfüllen.«
»Mach weiter, Delia!«
»Einer ihrer Freunde spricht Kauderwelsch, und sie spricht Kauderwelsch mit ihm. Hier ist es, ich zitiere: ›Er brabbelt sie voll, so, wie er mit seinen Kumpels redet, echt schnell.‹ Das kann bedeuten, dass er schnell spricht, aber wenn er mit Erica brabbelt, muss sie das Gebrabbel verstehen und ihm wahrscheinlich genauso antworten.«
»Ein russischer Freund, 1944? Ein Immigrant?«
»Warum nicht? Von allem, was ich über Dr. Davenport weiß und gesehen habe, mag sie Heimlichtuerei. Eine Unterhaltung in einer anderen Sprache ist wahrscheinlich genau ihr Ding.«
»Dem Milchmann zufolge, hatte der Mann Freunde.«
»Das ist nicht ungewöhnlich, Carmine. Immigranten mit schlechten Englischkenntnissen tendieren dazu, sich zusammenzurotten. Wo spielte sich das Ganze ab?«
»In einem Vorort von Boston.«
»Dann gab es dort wahrscheinlich Arbeit.«
»1944? Haufenweise.«
Okay, also sprach sie Russisch, entschied Carmine und blätterte zurück zu den Smith-Jahren. Das Geld von Shawcross kam gerade richtig. Die offiziellen Austauschprogramme gabes noch nicht, aber die Studenten wurden angehalten, zwei Semester, Herbst und Frühling, im Ausland zu verbringen, um ihren Horizont zu erweitern. 1947 bat die zwanzigjährige Erica, die London School of Economics besuchen zu dürfen, vorausgesetzt, die Kurse dort würden ihr für das Studium angerechnet. Und so ging sie nach London. Ihre Brillanz und ihr Engagement kamen an der L. S. E. nie ins Straucheln; während andere Studenten mit der Fremdheit anderer Geisteshaltung und Gewohnheiten ihre Schwierigkeiten hatten, passte sich Erica Davenport problemlos ihrer neuen Umgebung an. Sie schloss Freundschaften, ging auf Partys und hatte ein paar Liebesaffären mit Männern.
Nach dem erfolgreichen Ende der Auslandssemester verbrachte sie den Sommer 1948 damit, den europäischen Kontinent zu erforschen; in ihrem alten Reisepass waren Stempel aus Frankreich, den Niederlanden, Skandinavien, Spanien, Portugal, Italien und Griechenland. Sie reiste zweiter Klasse, ohne Begleitung, was sie damit erklärte, dass die Einsamkeit ihrer Seele guttäte. Als sie auf dem Rückweg einen Zwischenstop in London
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