Zuckerblut
Verbindung mit den Lieblingsausdrücken ›gnadenlos‹ und ›keine Diskussion‹ ließ jeden, der mit ihr zu tun hatte, insgeheim die Faust ballen.
Die fachlichen Qualitäten der Frau waren zwar anerkannt und vor Gericht hatte sie durch ihre scharfe Zunge einige Angeklagte zu einem Geständnis bringen können. Ihre gefürchtete Art aber, mit der sie den Mitarbeitern von Polizei und Justiz ›Dampf‹ zu machen pflegte und in Prozessen schon zahllosen Rechtsanwälten vor den Kopf gestoßen hatte, war auch ihren Vorgesetzten nicht verborgen geblieben. Eine Vielzahl von Beschwerden und einige schriftliche Missbilligungen füllten die Personalakte. Um ein Disziplinarverfahren war sie aus unerklärlichem Grund bisher immer noch gerade so herumgekommen.
Der Traum der Oberstaatsanwältin, irgendwann ins Richteramt zu gelangen, hatte sich daher schon früh zerschlagen, und als sich ihr Mann nach sechzehn Jahren ebenso gnadenlosem wie auch kinderlosem Ehe-Martyrium endlich getraute, die Scheidung einzureichen, verschärfte sich der Ton, in dem sie mit Andersdenkenden kommunizierte, noch einmal deutlich.
»Herr Hauptkommissar«, bellte es aus Lindts Telefonhörer, »die Öffentlichkeit sitzt uns im Nacken. Laufend rufen hier irgendwelche penetranten Journalisten an und fragen nach dem Stand der Ermittlungen. Was können Sie denn vorweisen?«
Auch Lindt tat sich schwer mit der Oberstaatsanwältin. Im Umgang mit seinen Mitarbeitern pflegte er einen durchweg freundlichen, sehr kollegialen bis väterlichen Stil. Der Ton wurde höchstens dann etwas brummig, wenn er mit seiner eigenen Arbeit nicht so weiterkam, wie er es sich vorstellte. Wellmann und Sternberg ließen ihn dann einfach in Ruhe und gingen ihm ein paar Stunden aus dem Weg. Meistens hatte Lindt in dieser Zeit eine Möglichkeit gefunden, wieder einen Schritt vorwärts zu machen und motivierte damit sein eingespieltes Team zu weiteren Höchstleistungen.
In kurzen Worten berichtete der Kommissar der Oberstaatsanwältin von den unzähligen Befragungen, die er mit seinen Mitarbeitern und den unterstützenden Kollegen bereits durchgeführt hatte. Er nannte die Untersuchungen der Kriminaltechnik und der Gerichtsmedizin, vermied es aber, etwas über den blutbespritzten Stadtplan und mögliche Zusammenhänge zu dem Mordfall zu sagen.
Während des Telefonats sah er vor seinem geistigen Auge dauernd das im Lauf der Jahre immer hagerer gewordene und schärfer geschnittene Gesicht der Juristin und stellte sich vor, wie sie, sicherlich neben ihrem Schreibtisch stehend, den Hörer umklammerte. Er spürte die unverhohlene Aggression in ihrem Tonfall und die feste Absicht, in seinem Bericht nach selbst kleinsten Ungereimtheiten und Schwächen zu suchen, um sofort einhaken zu können und strenge Vorgaben für den weiteren Verlauf der Ermittlungen zu machen.
»Wir müssen erst noch die vollständigen Untersuchungsergebnisse abwarten, bis wir Näheres an die Presse geben können«, war Lindts Auskunft. »Sagen Sie den Journalisten doch einfach, dass wir als Sonderkommission intensiv arbeiten und mehreren ernstzunehmenden Hinweisen aus der Bevölkerung nachgehen.«
»Ergebnisse, Herr Lindt, wir brauchen Ergebnisse. Diese Reporter lassen sich nicht einfach mit pauscha len Auskünften abspeisen. Wenn Sie in der Zwischenzeit wenigstens den Tatort gefunden hätten, dann könnten wir dort einen Ortstermin mit den Medien machen – aber so ... Die Schlagzeilen in den Zeitungen kann ich mir schon wieder lebhaft vorstellen.«
Das war selbst für Oskar Lindt zuviel. Schlagartig vergaß er seine fast sprichwörtliche Gutmütigkeit und schlug in deutlich verschärftem Ton zurück: »Was heißt hier denn ›schon wieder‹. Verweisen Sie lieber auf unsere beispielhaft hohe Aufklärungsquote. Damit liegen wir im ganzen Land mit an der Spitze. Das sind die Fakten, die wir vorzeigen können. Meine Mitarbeiter und ich arbeiten mit sehr großem Einsatz und wir tun alles, was wir können, um den Fall so schnell wie möglich aufzuklären. Etwas Geduld müssen Sie schon noch haben. Guten Tag, Frau Oberstaatsanwältin!«
Ohne auf eine Antwort zu warten, legte er auf. Umgehend nahm er den Hörer wieder in die Hand, um Staatsanwalt Conradi anzurufen und nachzufragen, weshalb sich dessen gefürchtete Vorgesetzte in den Fall eingeschaltet hatte. Er erreichte aber lediglich das Sekretariat und bekam die Auskunft, dass ›sein‹ Staatsanwalt wegen einer familiären Angelegenheit einige Tage Urlaub nehmen
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