Zuckerblut
mithalten zu können, oder ... oder ... oder. Es gibt noch viele Möglichkeiten, die in Frage kommen können.«
»Bin mal gespannt, was Jan bei der Überwachung herausfindet, vielleicht hilft uns ja der Zufall und es gibt irgendeine Überraschung.«
»Entweder der Zufall oder unsere kleinen grauen Zellen, eines von den beiden wird uns schon weiterbringen. Du könntest mal nach Informationen über die finanziellen Verhältnisse von Baumbach junior suchen und ich für meinen Teil gehe jetzt nachdenken.«
Lindt tastete mit den Händen an die Taschen seiner Jacke, fühlte links zwei Pfeifen, rechts die Tabaksdose und machte sich solchermaßen zufrieden gestellt auf den Weg. Die Gehirnzellen durch einen Fußmarsch zur Arbeit zu ermuntern war auch eine seiner Methoden, den Dingen auf den Grund zu gehen. Mit ausladenden aber dennoch nicht übereilten Schritten, wie wenn er auf einer Wanderung wäre, strebte er voran – erst über die Kaiserstraße, dann am Verfassungsgericht entlang bis zum Schloss und durch eines der seitlichen Tore in den dahinterliegenden Schlossgarten. ›Fast wie wenn mich der Fundort der Leiche magnetisch anziehen würde‹, kam ihm in den Sinn, denn wenn er die Richtung beibehalten und am nördlichen Ausgang den Park wieder verlassen würde, wäre er ganz in der Nähe der Stelle, wo die ermordete Andrea Helmholz gelegen war.
Kurz vor der Schlossgartenmauer und dem großen Tor entschied er sich dann aber doch anders, umrundete rasch den See, ohne auf die Entenscharen und die friedlich laufenden Hunde der vielen Spaziergänger zu achten, schlug einen schmaleren Seitenweg ein und setzte sich schließlich unter einer großen Eiche auf den Boden. Den Schatten der ausladenden Äste dieses uralten Baumes hatte er schon oft aufgesucht, wenn er intensiv nachdenken wollte. Abseits der stark genutzten Rasenflächen fand er hier die nötige Ruhe und manchmal schien es ihm fast so, als könne er von der Erfahrung und Weisheit des knorrigen Überrestes vergangener Zeiten ein ganz kleines Stück abbekommen.
Er stellte sich vor, was diese alte Eiche in den drei oder noch mehr Jahrhunderten ihres langen Lebens schon alles mitbekommen hatte und ansehen oder anhören musste. Lindt legte sich flach auf den trockenen Boden und presste sein Ohr an einen Ausläufer der dicken Wurzeln. ›Vielleicht erzählt mir der Baum ja etwas‹, dachte er und versuchte alle seine Sinne zu konzentrieren.
Zuerst hörte er nur die Geräuschkulisse der Stadt, den ständigen Lärmpegel aus Verkehr, Fabriken, Maschinen, das durchdringende Signalhorn eines Rettungswagens, der sich durch die verstopften Straßen quälte.
Dann erkannte er die Geräusche der Fahrräder, die teils klappernd, teils quietschend auf dem knirschenden Sand der nahen Wege vorwärts getreten wurden.
Die Unterhaltung der Spaziergänger, das Lachen der spielenden Kinder, das Bellen zweier sich balgenden Hunde, der Gesang der Vögel in den Zweigen ... all das filterte Lindt nach und nach aus und hörte schließlich nur noch das sanfte Rauschen des Windes in den frisch ausgetriebenen Eichenblättern.
Es kam ihm komisch vor, als er schließlich gar nichts mehr hörte, sich aber von Ferne über den Rasen eine Gestalt näherte. Eine Frau schien mit federnden Schritten vorbeizujoggen. Oskar Lindt erkannte abgenutzte Laufschuhe, die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Merkwürdig, zur eng anliegenden Sporthose trug die Joggerin einen weißen Arbeitskittel und um ihren Hals baumelte ein ... ja, er wollte sich die Augen reiben, hatte aber keine Macht über seinen Körper ... er erkannte ein Stethoskop, wie es in der Medizin zum Abhören von Herztönen gebraucht wurde. Was soll denn das bedeuten, grübelte Lindt, versuchte noch einen Blick in ihr Gesicht zu erhaschen, aber da war sie schon vorbeigetrabt, nein eher geschwebt und auf dem Rücken ihres Kittels konnte der Kommissar gerade noch die farbenfrohe Aufschrift ›Herz und Verstand‹ entziffern, bevor sie entschwand.
Er kniff die Augen zu, um genauer zu sehen, erkannte statt der Frau aufs Mal ein Straßenschild, auf dem die Entfernungen nach Split, Dubrovnik und Mostar angegeben waren.
Er reckte den Hals, drehte seinen Kopf, um den Verlauf der Straße besser zu erkennen und gleich fiel ihm ein großes dreistöckiges Gebäude auf, an dessen linker Seite gerade Bauarbeiten im Gang waren. Er erblickte eine Maurerkolonne, die eine Wand aus grauen Hohlblocksteinen aufsetzte. Warum sind denn da so viele Kinder bei dem Haus?
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