Zuckerguss (German Edition)
fahren. Den Triumph gönne ich meinem Vater jedoch nicht. Er glaubt dann nur, von Anfang an recht gehabt zu haben. Dass ich ein trotziges Kind bin, das vor der Verantwortung davonläuft, unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Darauf verzichte ich dankend.
Heute fährt ohnehin kein Zug mehr. Fürs Erste sitze ich hier fest. Willkommen in der Provinz!
Da ich keine Lust verspüre, mir von meiner Mutter Vorwürfe anzuhören, weil ich bei dem Gespräch mit meinem Vater nicht diplomatisch genug vorgegangen bin, laufe ich ganz automatisch die Lübsche Straße hinauf in Richtung Markt, dem Zentrum von Wismar.
Der Wismarer Markt ist der größte in Norddeutschland. Zahlreiche historische Bauten wie der Alte Schwede und die Wasserkunst, das Wahrzeichen Wismars, säumen den einen Hektar großen Marktplatz. Die Abendsonne scheint auf das kegelförmige Dach der im Renaissancestil gehaltenen Wasserkunst und lässt sie fast majestätisch wirken. Die zahlreichen Restaurants und Cafés sind gut besucht, Stimmengewirr und Lachen dringen an meine Ohren.
Ich setze mich auf die von der Sonne erwärmten Rathaustreppen und lehne mich zurück.
Ein lauer Sommerduft, gepaart mit dem salzigen Geruch des Meeres, liegt in der Luft. Ein Mann im grauen Businessanzug setzt sich neben mich. Er schlägt die Zeitung auf und vertieft sich in die Lektüre. Aus den Augenwinkeln mustere ich ihn unauffällig. Ich benötige nach wie vor einen Begleiter für morgen, und irgendwo muss ich ja anfangen. Auf den ersten Blick wirkt der Mann nicht wie ein Psychopath oder ein entlaufener Häftling. Er sieht sogar richtig gut aus. Ein bisschen wie George Clooney. Leider auch mindestens in dessen Alter – und am Ringfinger prangt ein dicker goldener Ehering. Drama, Baby.
»Wollen Sie vielleicht den Lokalteil lesen?«, will er wissen und entblößt eine Reihe makelloser weißer Zähne.
Ich fühle mich ertappt und laufe rot an. Hoffentlich hat er nicht gemerkt, dass ich ihn angestarrt habe. Sonst denkt er womöglich, ich bin ein Groupie. Oder noch schlimmer, ein Stalker!
»Äh, danke«, nuschele ich und verstecke schnell mein Gesicht hinter der Zeitung. Scheinbar interessiert überfliege ich die örtlichen Meldungen des Wismarer Tageblatts .
Das alljährliche Wismarer Hafenfest beginnt in einer Woche, die Aufbauarbeiten laufen auf Hochtouren. Die Verkehrsunfälle in der Hansestadt nahmen im Vormonat deutlich ab; und Oma Trude und Opa Wilhelm feierten gestern mit ihren fünf Kindern, vierzehn Enkeln und drei Urenkeln ihren sechzigsten Hochzeitstag. Herzlichen Glückwunsch. Genauso spannend geht es auf der nächsten Seite weiter. Der Bienenzüchterverein beging am Donnerstag seinen zehnten Jahrestag – muss ein Wahnsinnsereignis gewesen sein, denn der Artikel mit einem halben Dutzend Bildern nimmt fast die gesamte Seite ein. Lediglich das »sensationelle Knüllerangebot« einer Discount-Bäckerei sowie das Impressum des Wismarer Tageblatts finden noch Platz. Im Impressum springt mir ein Name ins Gesicht. Oliver Wegener. Ich blinzele überrascht. Olli? Tatsächlich. Da steht es. Schwarz auf weiß.
Ungläubig falte ich die Zeitung zusammen und gebe sie George Clooney zurück. Dann springe ich wie von der Tarantel gestochen auf und laufe quer über den gesamten Marktplatz. Vier Minuten später stehe ich vor einem neugebauten Bürogebäude mit einer imposanten Glasfront. Neben einer Rechtsanwaltskanzlei, einem Steuerberater und einem Friseur im Erdgeschoss beherbergt es unter anderem auch die Räume des Wismarer Tageblatts .
Mit klopfendem Herzen fahre ich mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Meine Hände sind schweißnass, als ich aus dem Fahrstuhl trete und mich suchend umsehe. Wieso ich mich derartig verrückt mache, weiß ich selbst nicht. Das hier ist schließlich kein Vorstellungsgespräch!
Die Dame am Empfangstresen mit dem strengen Bob und dem nicht minder strengen Gesichtsausdruck beäugt mich argwöhnisch, sagt aber nichts. Ich drücke meinen Rücken durch und versuche, möglichst entspannt zu wirken. Einfach so tun, als ob ich die neue Praktikantin oder sonst wie wichtig wäre.
Unauffällig studiere ich die zahlreichen bordeauxfarbenen Holztüren. Ein Wegweiser wäre echt hilfreich. Die Empfangsdame kann ich schlecht um Rat fragen, das macht mich ja erst recht verdächtig. Ich luge rückwärts über meine Schulter. Sie beobachtet mich immer noch misstrauisch.
Am Ende des langen Ganges bleibe ich vor der letzten Tür stehen. Oliver Wegener
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