Zuckerguss und Liebeslieder Roman
fünfhundertster Song, Alice. Das habe ich mir nicht aus dem Ärmel geschüttelt.« Er deutet zu dem Wohnwagen. »Entweder sie steckt die Absagen weg, hat irgendwann Glück und schafft es. Oder sie gibt auf, kommt zurück und arbeitet für den Rest ihres Lebens im Diner.«
»Danke fürs Herkommen«, sage ich.
Die Hälfte der Behausungen hier im Trailerpark steht mit abmontierten Rädern auf Ziegelsteinen, und es weht ein stark nach gebratenem Fisch riechendes Lüftchen zu uns hin. Aber ich habe es nicht eilig.
»Madison kapiert es nicht«, sagt Wyatt nachdenklich. »Sie denkt, wenn sie berühmt ist, wird für sie alles anders. Aber wenn es tatsächlich so weit ist - wenn man in einen Plattenladen geht und das eigene Album auf Platz eins steht -, ist gar nichts anders. Man wendet so viel Zeit und Mühe auf und denkt, man fühlt sich bestimmt wie Superman, wenn man es endlich geschafft hat - und dann stellt man fest, dass der Ruhm längst nicht so toll ist wie erwartet.« Er sieht mich an. »Können Sie das verstehen? Vor sich
hin zu leben und die ganze Zeit das Gefühl zu haben, dass einem noch etwas zu seinem Glück fehlt?«
Und wie ich das verstehe. »Ja. So fühle ich mich seit damals, als Mum gestorben ist. Dass alles gut wäre, wenn sie noch lebte.«
Warum sage ich das gerade jetzt? Ich habe noch nie mit Wyatt über Mum geredet. Warum jetzt, warum ausgerechnet hier, im unpassendsten Moment? Ich sollte bei Stephen im Cottage sein.
Wyatt weicht meinem Blick nicht aus. »Aber es ist doch alles gut.«
Er wendet sich ab und steigt in den Pick-up. Dann lehnt er sich aus dem Fenster. »Mit Ihnen, Alice, das wollte ich damit sagen.«
36. KAPITEL
Endlich ist es so weit: Der Tag des Barnsleyer Cupcake-Wettbewerbs ist angebrochen. Stephen und ich stehen kurz vor dem physischen und psychischen Zusammenbruch. Es würde mich nicht im Geringsten wundern, wenn man bei Stephen ein posttraumatisches Stresssyndrom diagnostizierte. Als letzte Nacht um halb eins die Spritzgusstüte platzte und eine halbe Stunde feinster Kalligraphie zunichtemachte, hätte Stephen um ein Haar das Handtuch geworfen. Er war ein einziges Nervenbündel, seit ich am Abend zu Barnsley sucht den Superstar losgedüst war. Das wollte ich mir um keinen Preis entgehen lassen.
»Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich vom Schlachtfeld zu entfernen, Alice«, quengelte er.
Ich fuhr trotzdem und hörte mir an, wie Madison mit
»Hit Me Baby One More Time« eine zehnjährige Geigerin, einen alten Mann mit einer Mundharmonika und einen Fettklops, der eine grottenschlechte Version von »Nessun Dorma« zum Besten gab, auf die Ränge verwies.
Als wir darangehen, die Cupcakes in den Ford Focus zu verfrachten, kommt Gerry mit seinem Mercedes angebraust. Aus seiner Stereoanlage dröhnt »Simply Irresistible« von Robert Palmer. Stephen fegt eben den Kofferraum mit Schaufel und Besen aus, damit sich nur ja kein Stäubchen in der Buttercreme einnistet.
»Hey, Baby!«, ruft Gerry mir zu. »Ich bin gestern Abend von Vegas zurückgekommen.« Er versetzt mir einen neckischen Klaps aufs Hinterteil. »Hab dich höllisch vermisst.«
Stephen taucht aus dem Kofferraum auf. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagt er steif.
»Gerry Armstrong«, gibt Gerry unbefangen zurück.
»Das ist Stephen«, sage ich.
»Ich bin Alices Verlobter«, erklärt Stephen frostig.
Was Gerry völlig kaltlässt. »Hey, Sie sind also der Typ, den sie am Flughafen in die Wüste geschickt hat. Nett, Sie kennenzulernen«, sagt er, legt ihm die Hand auf die Schulter und rüttelt ihn herzhaft durch.
Stephen ringt um sein Gleichgewicht. »Wenn Sie uns entschuldigen wollen«, sagt er mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er eine Zitrone verschluckt, »wir haben zu tun.«
»Kein Problem.« Gerry zwinkert mir zu.
Stephen wuselt ins Cottage, wo vier große Schachteln Cupcakes darauf warten, ins Auto eingeladen zu werden, mitsamt einem zusammengerollten Fotokarton im Plakatformat, auf dem Stephen minutiös unseren Masterplan festgehalten hat. Es ist eine bis ins letzte Detail akkurate, maßstabsgetreue Zeichnung.
Stephen holt tief Luft. »Gehen wir es ganz ruhig an«, sagt er. »Keine abrupten Bewegungen.«
Er streckt die Hände nach der ersten Schachtel aus und zieht sie dann wieder zurück. Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn. Er holt ein zweites Mal Luft. »Wenn die Buttercreme irgendwo anstößt, ist am Ende alles im Eimer«, wispert er.
Gerry kommt hereingeschlendert.
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