Zuckerguss und Liebeslieder Roman
steht mir nicht ein Leben lang offen.«
Mit Veränderungen hat Stephen schwer zu kämpfen. Der Gesprächsgruppe für Patienten mit Angststörungen ist er nach einem unglückseligen Kurzabenteuer mit der Abteilung für Strafrecht beigetreten. Es ging um einen kleinen Betrugsfall, und am zweiten Beratungstag der Geschworenen musste Stephens Mandant ihm eine braune Papiertüte über den Mund stülpen und ihm seine Atemzüge vorzählen. Als der Mandant zu achtzehn Monaten verurteilt wurde, klappte Stephen endgültig zusammen. Doch dank der Bemühungen von Dr. Vaizey ließ Stephen sich von der Idee abbringen, sich zum Versicherungsgutachter umschulen zu lassen. Stattdessen warf er sich aufs Grundstücksrecht und heimst seither einen Erfolg nach dem anderen ein. Mittlerweile ist er quasi eine Koryphäe auf dem weiten Feld landwirtschaftlicher Nutzungsbeschränkungen. Sein Artikel für
das Farming Law Journal mit dem Titel »Pflügrechte - eine Streitschrift für behutsame Reformen« wurde von seinem Chef als »absolut folgerichtig« erachtet.
»Selbst wenn du gehst«, sagt er flehentlich, »was ist mit deinem Gehalt, den Sozialleistungen, der Krankenversicherung und dem Anteil des Arbeitgebers zu deinen Rentenbezügen?«
Ich nicke. Er hat ja recht. Ich weiß, was die Leute über ihn denken. Dad sagt, er ist grundsolide, Carolyn sagt, er ist verlässlich, und Teresa sagt, er ist ein Vollidiot, aber sie alle kennen den wahren Stephen nicht. Er ist nicht nur eine große Stütze, sondern außerdem auch noch nett und aufmerksam. Menschen mit Angststörungen bringen Tage damit zu, das perfekte Geburtstagsgeschenk einzukaufen, und wenn es ausgepackt wird, brabbeln wir alle exakt das Gleiche: Wenn es dir nicht gefällt, kannst du es umtauschen - ich hab die Quittung aufgehoben. Stephen ist da keine Ausnahme. Wie seine Internetrecherche ergab, ist Brotmaschine keinesfalls gleich Brotmaschine (wie Teresa hartnäckig behauptete). Die, die er mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hat, war ein absolutes Topmodell. »Alice, das ist etwas für dich und etwas für den Haushalt.«
Außerdem ist er mir in vielem sehr ähnlich: Er begleicht am Monatsende all seine Kreditkartenrechnungen, hält sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen und hängt seine Sachen auf identischen weißen Plastikkleiderbügeln immer in dieselbe Richtung auf. Dazu hat Stephen noch Riesenfortschritte mit seinen Problemen - Geld und Versagensangst - gemacht, die anfingen, als er noch ein Kind war und seine Eltern mit ihrem Restaurant pleitegingen. Stockend sagte er zu der Gruppe: »Stellt euch vor, euer ganzes Leben ändert sich über Nacht. Wir haben das Geschäft und
das Haus verloren, und mein Dad war nie mehr der Alte. Der Bankrott hat ihn seelisch gebrochen. Ich habe mich seither nie mehr sicher gefühlt - weil ich nun wusste, dass schlimme Dinge nicht immer nur den anderen passieren. Sie konnten genauso gut mir passieren.«
Stephen tat mir so leid, wie er das sagte. Man tut sich leicht, auf anderen wegen ihrer Schwächen herumzuhacken, aber wenn man weiß, was dahintersteht und was diejenigen durchgemacht haben, sieht man die Dinge aus ihrer Perspektive. Wir sind jetzt seit fast vier Jahren zusammen, was für eine Beziehung doch eine nicht unbeträchtliche Zeitinvestition bedeutet. Insbesondere wenn man sich nicht allzu sicher ist, ob man wohl jemals noch wen anderen kennenlernen wird. Die meisten kapieren einfach nicht, was Angstgestörte für Probleme haben; sie halten einen Satz wie »Sieh’s nicht so eng, wird schon alles wieder« für einen hilfreichen Ratschlag. »Ach, echt«, bin ich dann versucht zu sagen, »da wäre ich nie draufgekommen.« Sage ich natürlich nicht, weil ich Angst habe, sie damit zu beleidigen. Donny Osmond würde es kapieren - er ist unter www.donny.com mit seinen Angststörungen an die Öffentlichkeit gegangen, aber er ist verheiratet, hat diverse Kinder und lebt in den USA.
Wenn man um die ganze Geschichte weiß, ist es leichter zu begreifen, warum Stephen alle seine Ausgaben in einem Spiralnotizheft festhält und warum er sich noch nicht aufs Heiraten oder Kinderkriegen einlassen kann. »Ich liebe dich, Alice, gar keine Frage«, sagte er, als er mich nach drei Jahren Beziehung fragte, ob ich mit ihm zusammenziehen wolle. »Ich muss die Dinge bloß langsam angehen.«
Jetzt reibt er sich die Schläfen. »Der Zeitpunkt ist denkbar
ungünstig. Ich stehe mit der vorbereitenden Lektüre für die Traktorreifengeschichte unter
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