Zuckerguss und Liebeslieder Roman
attraktiver vorkommt. Plötzlich vermisse ich Stephen und all seine vertrauten Gewohnheiten schmerzlich: wie er immer die Kaffeebecher im Küchenschrank aufgereiht hat, die Henkel im 45-Grad-Winkel nach rechts, und wie präzise er die Zahnpastatube vom Ende her aufgerollt hat.
Ich sehe sie vor mir in unserer Wohnung: Stephen massiert Zara, die gerade einen weiteren Shetlandpullover fabriziert, die Schultern und lässt zärtlich seine Zunge über ihren Nacken schnellen. Er trägt eine Hausjacke aus dunkelgrünem Samt und hält eine Zigarettenspitze mit einer Mentholzigarette zwischen den Fingern, obwohl er doch gar nicht raucht. Zara hat ein freches Cocktailkleid im Stil der Zwanzigerjahre an. »Denkst du noch manchmal an Alice?«, fragt sie mit einer Spur Eifersucht in der Stimme. Stephen lacht schrill auf und zwirbelt seinen Schnauzer. »Du dummes kleines Ding. Sie kann dir nicht das Wasser reichen, meine Teuerste . Wir wollen nie mehr von ihr sprechen. Abgemacht!« Dann stoßen sie mit ihren Martinigläsern an und ziehen sich ins Schlafgemach zurück.
Ich wälze mich auf den Bauch. Londoner Modewoche. Die Schau von Stephen und Zara ist das absolute Muss unter den Kollektionen. Naomi Campbell trägt einen figurnahen cremefarbenen Arran-Pullover, der ihr bis zu den Knien reicht, und Elizabeth Jagger ist warm verpackt in einem malvenfarbenen Stehkragenpulli aus Angorawolle. Im Blitzlichtgewitter springen hartgesottene Journalisten unter Jubelrufen auf, als Stephen und Zara, beide von Kopf
bis Fuß in schwarzem Mohair, sich am Ende der Modenschau inmitten einer Heerschar mit Schals bewehrter Models auf dem Laufsteg zeigen. Ihr anschließender Börsengang macht sie über Nacht zu Milliardären.
Ich drehe mich auf die Seite, rolle mich zusammen und fange mit meinen Atemübungen an. Aber bald schon finde ich mich in meiner Einzimmerwohnung in Surbiton wieder, wo ich der Katze von meinem Tag in der Bibliothek berichte und in einem Brief an den Premierminister die Mängel der Dewey-Dezimalklassifikation umreiße.
An Entspannung ist nicht zu denken, also stehe ich auf und gehe in die Scheune. Casey wird schon da sein und wie immer ein Schwätzchen mit mir halten. Danach ist für ihn Teestunde im Haus, zu der sich auch Heidi immer ziemlich pünktlich einfindet.
Ja, Casey ist da und striegelt Mary Lou. Sie ist jetzt in der Gegend weit und breit berühmt. Letzte Woche hat sie bei der Scott County Show nicht nur den Preis als beste Milchkuh eingeheimst, sondern ist auch noch zur Siegerin aller Rassen und Klassen gekürt worden und hat dabei zwei Schafe und eine Ziege auf den zweiten, dritten und vierten Rang verwiesen. Casey und Mary Lou waren in der Lokalzeitung, und es wird gemunkelt, dass sie nächstes Jahr bei der Ohio State Show in den Ring geschickt wird.
»Hi, Casey. Wie geht’s?«
Ich tätschle Mary Lou und werde mit einem dumpfen Brummen belohnt. Mary Lou ist eine sehr umgängliche Kuh.
Keine Antwort. Casey reibt sich mit dem Saum seines T-Shirts über die Augen. Bei genauerem Hinsehen stelle ich zu meinem Entsetzen fest, dass er weint.
Ich gehe zu ihm hin und fasse ihn sacht bei der Schulter. »Casey, was ist denn?«
Er schüttelt den Kopf. »Es ist was Privates.«
»War was zu Hause?«
Er schüttelt den Kopf.
Das könnte sich hinziehen.
Aber dann sieht Casey zu Mary Lou hin, und seine Augen werden wieder feucht.
»Geht es um Mary Lou?«
Ich glaube, ich weiß, was es ist - der Druck wegen der Ohio State Show. »Casey, falls es wegen der State Show ist, da musst du dir keine Gedanken machen. Es geht nicht um Gewinnen und Verlieren. Dabei sein ist alles.« Ein sehr origineller Zuspruch.
»Sie kann da nicht hin!«, bricht es aus ihm heraus. »Opa will sie verkaufen.«
Ich bin platt. »Aber sie gewinnt doch mit links.« Das stimmt wirklich. Ob man’s glaubt oder nicht, Mary Lou weiß genau, wann eine Schau ansteht. Sobald der Anhänger vorgefahren wird, hebt sie den Kopf und trottet stolz die Rampe hinauf, exakt wie später im Vorführpferch. »Wieso das denn?«
»Opa hat gesagt, ich darf es niemandem erzählen.«
»Ich bin aber nicht niemand. Ich bin deine Freundin.«
Casey knickt ein. Als Spion wäre er unbrauchbar. »Wegen der Rechnungen vom Tierarzt.«
»Oh.«
»Wir haben große Schulden. Es sind Rechnungen von da, wo wir noch die Herde hatten. Opa hat versucht, sie abzuzahlen. Aber jetzt haben wir einen Brief vom Gericht gekriegt. Der Tierarzt verklagt uns auf Tausende von Dollars.« Casey
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