Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zuckerguss und Liebeslieder Roman

Zuckerguss und Liebeslieder Roman

Titel: Zuckerguss und Liebeslieder Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosie Wilde
Vom Netzwerk:
Ich betrachte Wyatt, den vertrauten Umriss seines breiten Rückens, sein länger nicht geschnittenes Haar, das ihm so gut steht, seine Hände, die von der Arbeit im Freien dunkelbraungebrannt sind. Ich schaue mich in der Küche um, wobei mir klar wird, dass ich mittlerweile an den meisten Tagen hier morgens, mittags und abends esse. Dann sehe ich zu Casey hin und denke, dass Wyatt nicht der Einzige ist, den ich schweren Herzens zurücklassen werde.

    Und dann befehle ich mir, Vernunft anzunehmen. Ich darf so nicht denken. Ich werde mir auch nicht einen Augenblick lang erlauben, mich Träumereien hinzugeben. Das habe ich schon einmal gemacht, und als unsere Hoffnungen zerschlagen waren, als alles, von dem wir dachten, es würde gut ausgehen, sich als schrecklich verkehrt herausstellte, da wurde mir klar, wie gefährlich Träume sein können. »Es ist nur eine Routineuntersuchung«, sagte Mum am Abend vor ihrem Termin im Krankenhaus, zwei Jahre nach der Operation und der Chemotherapie und den Bestrahlungen. Mum und die Ärzte hatten alles im Griff, so dachten wir jedenfalls. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich ihr morgens viel Glück gewünscht habe. Ich war selbstzufrieden geworden, und falls Mum nervös war, ließ sie es sich nicht anmerken. Als ich von der Schule nach Hause kam, saßen Mum und Dad im Wohnzimmer. Sie hatten vergessen, Licht zu machen.
    »Es ist zurückgekommen, Alice«, sagte Dad leise.
    Ich war geschockt, lachte aber nur ein bisschen nervös, wenn ich mich recht erinnere. »Das können sie doch wieder verschwinden lassen.« Es war keine Frage. Es war das, was ich glauben wollte.
    Dann sprach Mum. »Es sitzt in den Knochen, Liebes.«
    In dem Moment schwor ich mir, das Träumen aufzugeben. Manchmal glaube ich, es war der Moment, in dem ich die Hoffnung aufgab. Doch jetzt sehe ich zu Casey hin, sehe das Vertrauen in seinem Blick, die feste Überzeugung, dass ich irgendwie Mary Lou retten werde und alles gut ausgeht. Nein, ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Nicht für Casey jedenfalls. Ich beschließe, dass ich Opa morgen einen Besuch abstatten werde.

29. KAPITEL
    Nach einer Woche habe ich genügend Mut gefasst, um Caseys Opa aufzusuchen. Wie man sich vorstellen kann, sind mir dazu diverse Szenarien durch den Kopf gegangen, die meist damit enden, dass ich von einem weißbärtigen, mit einem Gewehr fuchtelnden Irren in Jeanslatzhosen von dem heruntergekommenen Anwesen verscheucht werde. »Lady, ich nehm keine Almosen nich, von keiner Menschenseele. Und jetzt ab mit Ihnen, zurück in die große Stadt, und setzen Sie unserm Casey nicht Ihre ausländischen Flausen in den Kopf.« Begleitet von Hühnergegacker brause ich mit Höchstgeschwindigkeit davon.
    Ich fahre bei der Farm vor, deren maroder Hof mit kaputten Einzelteilen von landwirtschaftlichen Geräten übersät ist: ein zerlegter Pflug, Streugeräte und seitlich ein aufgebockter Traktor, dem beide Hinterräder fehlen. Sie liegen daneben, aus der Mitte wuchert Unkraut empor. An der Wand lehnt ein Schild: Hier geht’s zum Maislabyrinth! Ja richtig, das legt Opa immer noch jedes Jahr an. Ich stelle den Wagen ab und gehe zum Haus. Die Furcht knotet mir den Magen zu.
    Ich war nie besonders gut in »dynamischen Dialogen«, wie Dr. Vaizey das nennt. Er hat uns immer Mut gemacht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit mithilfe von dynamischen Dialogen unsere Bedürfnisse selbstbewusst zur Sprache zu bringen und Wachstumsziele festzulegen. Jennifer bekam eine Runde Applaus, als sie bei SPAR eine gammelige Avocado zurückgab, ein Ereignis, das sie im Folgenden als Beginn einer neuen Ära persönlicher Freiheit einstufte. (Ich kann mich nicht erinnern, ob Zara je die Aufgabe,
dynamische Dialoge zu führen, erfüllt hat, obwohl das Gespräch, in dessen Verlauf sie Stephen gefragt haben muss, ob er ihr nicht den Schlüpfer ausziehen möchte, wohl mehr als zählt. Aber ich bin nicht verbittert.)
    Das Farmhaus, ein orangerot gefärbter Ziegelbau, ist schätzungsweise hundert Jahre alt und ziemlich heruntergekommen. In der abblätternden, verwitterten Tür klafft ein breiter Riss, ein ramponierter Fensterladen ist halb abgekippt, und die Regenrinnen entlang der Fassade hängen bedrohlich durch. Ich lasse den Blick weiter in die Höhe wandern und entdecke, dass der obere Teil des Schornsteins eingekracht ist und auf dem Dach ein paar Schieferplatten fehlen.
    »Was wollen Sie?«
    Die Tür ist mit Schwung aufgerissen worden, und Opa mustert mich finster. Dass es

Weitere Kostenlose Bücher