Zuckerleben: Roman (German Edition)
Kapitallettern die Überschrift thront:
ICH, PITIRIM!
Darunter die nüchterne Gattungsbestimmung:
FABEL
(MIT GETIER UND OHNE)
Auf der ersten Seite steht mit Bleistift in geneigter Handschrift die Überschrift Statt eines Vorwortes gekritzelt, daneben konkretisierend: »Corbu, in diesem Putsch-August 1991«; darunter in Großbuchstaben, jedoch ebenfalls mit Bleistift in dichten Zeilen geschrieben:
ODE AN.
ITALIEN
Oh, farfallonische Brüstigkeit, oh Heimat von:
Puccini!
Dein Klang ist so sanft wie eine frische:
Tortellini.
Dein hübsch’ Antlitz zieht uns an, wir eilen
im Minibus,
nicht wie
Yura,
Igor,
Sandu
und
Tolja
(über Österreich)
zu Fuß,
(ohne
Bus!)
Deiner anmutigen Stimme sehnsüchtigen Klang bis hier hören
wir,
wir
traben zu
dir,
um in dich einzudringen wie ein beizender
Stier.
[Chor mezzoforte: GOTT WILL ES!]
So sei bereit für uns, des Remus und Romulus:
Nippel!
Tutunaru ist mein Name, und du, Italien, bist unser:
Stiefel.
Wir sind Moldawier und notfalls auch Tsche-
Tschenen,
deswegen schieb uns nicht ab wie Zigeuner und Ru-
Mänen!
[Chor mezzoforte: GOTT WILL ES!]
Künstler, das sind wir, auch Meister im Schnapsmachen,
und über deine Sizilianermafia können wir nur lachen –
der lauern wir auf und knutschen mit Vadims Spaten
das Gesicht,
ach, lieber Gott, es ist sechs Uhr dreißig, gib uns doch mal wieder
Licht!
[Chor crescendo: GOTT WILL ES!]
[Licht an!]
Deiner anmutigen Stimme sehnsüchtigen Klang bis hier hören
wir!
Wir
traben zu
DIR,
eiliger als die abstürzende Raumstation
Mir!
So liebe uns heiß,
Italien!
Denn wir kommen aus.
Moldawien!
(40 x)
[Licht aus.]
[Abwechselnd ½ Chor piano: GOTT WILL ES !/
½ Chor forte: ITALIEN, FROHLOCKE! ]
[Musik (leise, lyrisch): Puccini, Tosca ]
[Vom Himmel fallen wie Schneeflocken frische Tortellini.]
[Ein Minibus (Ford Transit neuestes Modell mit italienischen Kennzeichen) fährt vor.]
Die Burschen haben den ganzen Samagon-Kanister leer gesoffen, denkt Nadja, lässt von Pitirims Fabel-Manuskript ab und schaut sich ein wenig in dessen Gemach um. In einer Ecke sieht sie einen Rotfuchs. Das Tier betrachtet sie einige Momente lang aufmerksam, leckt sich zweimal über das Fell, hüstelt und trottet schließlich davon, als würde es eine Inspektion des Geländes machen und nun seinen nächsten Kontrollpunkt aufsuchen.
Nadja zieht die lichtundurchlässige Spruchwand »Herzlichen Dank dem lieben Leonid Breschnew für seine riesige Sorge um Aserbaidschan!«, die Tutunaru zum Vorhang umfunktioniert hat, zur Seite und schaut in die Abfüllhalle 2 der Zuckerfabrik von Dondușeni hinunter.
Dort erkennt die Italienischlehrerin ein überdimensionales Konstrukt, das mitten in der großen Fabrikhalle steht und an eine sitzende Frauengestalt erinnert. Der untere Teil des acht Meter großen Monuments besteht aus abgetrennten Gleisteilen, Bauschutt und Mischschrott; einige Holzbalken stützen den Schoß der Frau, zu welchem auch mehrere Metallleitern führen. Dort in ihrem Schoß ist zwischen den Köpfen von zwei Lenins eine durchlöcherte Metallplattform befestigt, auf der sich ein Kater die Pfoten leckt.
»Das ist die Isidora«, ruft Tutunaru von seiner Matratze aus und gesellt sich zu Nadja Pilipciuc, »hat Vadim der Maler gebaut. Er malt Bilder von der Isidora, die wir dann in Italien reichen Italienern verkaufen werden. Ist sein Beitrag zu unserem Italien-Projekt, neben der Beschaffung von Visa, weißt du.«
»Und was ist das für eine Stilrichtung?«, fragt Nadja Pilipciuc verwundert und betrachtet die kunstvoll zu einer Art Rock zusammengenähten Banner mit Parolen wie »Lasst uns die Kornproduktion der Sowjetunion steigern!«, »Plaudere nicht bei der Arbeit!« oder »Es lebe die KP d SU ! Es lebe Lenin!«.
»Die Stilrichtung haben wir ›Grotesker Sozialistischer Realismus‹ getauft, abgekürzt ›GroSoRe‹, das haben die dort in Italien bestimmt noch nicht gesehen.«
Pitirim Tutunaru deutet auf die Plattform in Isidoras Schoß.
»Da. Der linke Lenin, den haben wir auf einem verlassenen Bauplatz gefunden, der ist kleiner als der rechte. Deswegen haben wir ihm dieses Stück aus Basalt auf den Kopf gesetzt, damit die Plattform senkrecht bleibt.«
»Sieht aus wie eine Türkenmütze!«, sagt Nadja Pilipciuc und schaut sich Isidoras Kopf genauer an, der aus einem Steinblock gemeißelt ist. Aus Isidoras Augenhöhlen ragen Scheinwerfer.
Vadim der Maler kommt in die Halle mit einem Hahn unterm
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