Zuckerleben: Roman (German Edition)
wie’s gewesen ist, Gawril: Der Mihailytsch hat wahrscheinlich in irgendeiner Weise den Serge verärgert.«
»Wie, verärgert?«
»Sagen wir mal, Mihailytsch hat sich zu sehr aufgepuddelt oder seine Klappe zu sehr aufgerissen. Und Serge hat es ihm halt übel genommen, weil er sich nicht gerne von Mihailytsch verarschen lässt. Du weißt, dass Serge aufbrausend sein kann, manchmal. Drum hat er ihn persönlich hergeschickt, Mihailytsch den Major, mit dem Fisch. Und nicht Kirill Anghelciuc, den Kurier, oder Trifon den Transnistrier. Verstehst du?« Tudorel-Deomid Balmus forscht weiterhin im grünen Schulheft, sein Blick wandert aufmerksam von einer Zeile zur nächsten. »Also musste der Mihailytsch in den sauren Apfel beißen und nach Otaci fahren, mit Zhurkows Karpfen. Aber listig, wie er ist, hat sich Mihailytsch überlegt, wie er sich drum drücken kann, mir die schlechte Nachricht persönlich zu überbringen. Er hat angenommen, dass ich auf eine schlechte Nachricht negativ reagieren könnte. Und dass sich diese meine hypothetisch negative Reaktion auch negativ auf ihn auswirken könnte. Und hat deswegen den Fisch mit der Kühlbox hier bei dir für mich hinterlassen. Der alte Fuchs. So hat er sich elegant aus der Affäre gezogen.«
»Und wieso schlechte Nachricht?«
»Der Fisch , Gawril. Der Fisch bedeutet, dass etwas im Argen ist, dass etwas unternommen werden muss und dass meine persönliche Anwesenheit ausdrücklich erwünscht wird. Die Art des Fisches sagt aus, wo genau etwas passiert ist; der Karpfen steht für den Rayon Dondușeni.«
Gawril macht große Augen. Berührt das Jutesackerl mit seinen groben Fingern.
»Das Jutesackerl, hat das etwa auch eine Bedeutung?«
»Ja, Gawriluschka, hat es.«
»Und welche?«
»Die Verpackung, in der der Fisch kommt, gibt Auskunft über das Objekt, wo die Intervention stattfinden soll. Hier, ich hab’s!« Der Bulibascha von Otaci klopft energisch mit seinem Siegelring-Finger auf einen Vermerk im Zwei-Kopeken-Schulheft.
»Jutesack steht für die rayonale Zuckerfabrik von Dondușeni, Hlebniks Zuckerfabrik. Ha. Hätt ich jetzt nicht gedacht!«
Pause.
»Schon spitzfindig, der Serge«, murmelt der Bulibascha anerkennend, nimmt Gawrils Anwesenheit gar nicht mehr wahr und denkt sich: Die 8. Hauptverwaltung lässt grüßen – einmal Kryptologe, immer Kryptologe …
»Ich versteh das nicht. Hätte Wenjaminytsch nicht einfach von einem Münztelefon anrufen und so Bescheid geben können? Wär doch schneller und unkomplizierter gewesen …«
Der Bulibascha von Otaci schaut in das verdutzte Gesicht seines Neffen.
»Das wurmt dich jetzt, was, Gawriluschka?«
»Ja, das wurmt mich.«
»Der Serge ist halt kein Depp – wahrscheinlich hat er in seiner Jugend zur Genüge von diesen Münztelefon-Gesprächen selbst abgehört und mitgeschnitten, um selbst keine Lust zu haben, dass ihm auch so ein Spanner auf der Hörmuschel hängt und ihn kompromittiert. Deswegen der Fisch-Verpackungs-Code. Ich fand’s am Anfang auch unnötig, bis ich eingesehen hab, dass am Ende des Tages Vorsicht die Mutter der Porzellankiste ist. Besser so, als eines Tages zu schauen wie ein Uhu nach dem Waldbrand. Verstehst du, Gawril?«
»Und was bedeutet das jetzt für uns, Wenjaminytschs Karpfen im Jutesackerl, mein ich?«
Der Bulibascha von Otaci legt das Schulheft weg und betrachtet aufmerksam den Karpfen, der ihn aus seinen runden Augen neugierig anstiert. Als wollte er ihm etwas sagen.
»Das bedeutet, Gawril, dass du jetzt den Karpfen in die Küche bringen kannst. Und dass wir der Zuckerfabrik von Dondușeni einen Besuch abstatten werden.«
Pause.
»Sobald die Sache mit Tante Rimma und der alten Dosja erledigt ist.«
À LA GUERRE COMME À LA GUERRE
1991. DONDUȘENI, MOLDAWISCHE SSR
Die Italienischlehrerin Nadja Pilipciuc wacht auf und vernimmt sogleich eine intensive Samagon-Fahne. Es ist der schnauzbärtige Pitirim Tutunaru. Er liegt ausgestreckt auf einer gestreiften Matratze neben ihr, eine Hand und der Kopf auf einem pummeligen Kopfkissen ruhend; ein dünnes, zerknittertes Leinentuch bedeckt seinen Körper. Darunter atmet der Dondușenier Schwarzmarktspekulant zwar schwer, aber regelmäßig. Sein Gesichtsausdruck hat etwas Unbeschwertes an sich – Tutunaru lächelt im Schlaf. Er scheint glücklich zu sein.
Nadja zündet eine von denParastas-Kerzen an.
Neben Tutunaru entdeckt das Mädchen ein dickes Manuskript, mit weißen Schnüren zusammengebunden, auf dessen Deckblatt in
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