Zuckerleben: Roman (German Edition)
Und Nadja lässt es zu, weil ihr der Bruder leid tut.
Sie sagt sich: Lieber dem eigenen Bruder einen Gefallen tun, als sich irgendeinem Mistkerl hinzugeben, der sich dann doch als Arschloch entpuppt. – Aber sie lässt Bruder Mischa nur anal in sich eindringen, weil sie nicht vom eigenen Fleisch und Blut geschwängert werden möchte. Unter Alkoholeinfluss zeigt sich Mischa seiner Schwester gegenüber sehr zuvorkommend, beschützt sie und überhäuft sie mit Liebenswürdigkeiten. Und in nüchternem Zustand, da –
»Mischa …«
Nadja Pilipciuc sieht dem Dondușenier Schwarzmarktspekulanten, der in seine eigenen Gedanken versunken ist und nicht weiß, wie er auf die Geschichte der Italienischlehrerin reagieren soll, in die Augen und fährt fort:
»Mischa ist mein Bruder. Und obwohl ich ihn als Bruder trotz allem liebe, kann ich nicht mehr zu ihm zurück. Er tut mir nicht gut.«
Stille.
»Verstehst du das?«
Pitirim nimmt die Parastas-Kerze zur Hand und winkt die Italienischlehrerin näher zu sich heran. Mit Derimedonts Corbulaner Kerzenlicht erhellt Tutunaru einen Winkel seines Zuckerfabrik-Gemachs, in dem eine Staffelei und auf ihr ein zugedecktes Bild zu erkennen ist. Er fordert die Italienischlehrerin auf, ihren Blick genau auf die Mitte des Gemäldes zu fokussieren, wartet eine geschlagene Minute lang und reißt dann präzise wie ein sevillanischer Matador mit einer schnellen Handbwegung das Tuch vom Ölgemälde herunter, das folgendes Bild enthüllt:
Orientalisches Motiv. Idylle. Warme Farben. Wolkenloser Himmel in Ajwasowski-blauen Tönen. Sonnenschein. Im Vordergrund zwei Ausländer, die um die Aufmerksamkeit eines hünenhaften schnauzbärtigen Sowjetbürgers in ihrer Mitte buhlen. Die beiden Ausländer sehen zum Sowjetbürger empor, als wollten sie etwas von ihm. Und der Sowjetbürger quittiert ihre Aufdringlichkeit mit einem wachsamen Blick, als würde er den Ausländern nicht trauen. Alle drei Männer sind nackt. Churchill, der Ausländer mit Bulldoggengesicht links im Bild, reckt seinen fülligen Leib, von welchem das Fett in nicht enden wollenden Kaskaden hinunterschwappt, um in unterwürfiger Körperhaltung Stalin, dem Sowjetbürger in der Mitte, das Kreuzfahrerschwert Georgs VI . von England zu überreichen. Mit seiner linken Hand versengt Churchill indes mit einer steifen Zigarre seinen schlaffen Penis. Rechts im Bild ein klapprig-magerer Roosevelt. Roosevelt zwickt sich den spärlich behaarten linken Hoden und umklammert mit seiner ausgestreckten dürren rechten Hand Stalins monumentale Erektion. Neid brennt in den Pupillen des Amerikaners. Stalin scheint jedoch etwas ganz anderes als Genitalien, weder die fremden der beiden Ausländer noch die eigenen, noch das Kreuzfahrerschwert, das ihm der stark übergewichtige Churchill offeriert, zu beschäftigen – mit seinen Traktoristenpranken dreht der Sowjetbürger stattdessen an einem überdimensionalen Rubik-Würfel in Weltkugelformat und lächelt süffisant. Um Stalins arterienreichen Hals ist ein dickes Lederhalsband mit spitzen Metallstiften befestigt, auf dem der aufmerksame Betrachter des Ölgemäldes den darin eingenähten Spruch erkennt:
Odi profanum vulgus et arceo.
Und unten der Titel: EUREKA . Teheran-Konferenz.
Nadjas Gesichtszüge hellen sich wieder auf. Die Italienischlehrerin lacht.
Pitirim deckt die Teheran-Konferenz wieder zu.
»Die Konferenz ist am effektvollsten, wenn man sie aufdeckt, sie genau zwei Minuten betrachtet und wieder zudeckt. Tatsache«, erklärt der Dondușenier Spekulant und blickt in den Glanz der haselnussfarbenen Augen der Italienischlehrerin.
Nadja nickt, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
»Ja. Sie wirkt auf jeden Fall nach, die Konferenz.«
Der Dondușenier Schwarzmarktspekulant ist erleichtert, dass Vadims GroSoRe-Werk Nadjas Gemüt aufgelockert hat, und überlegt mit einigem Besitzerstolz, dass er sich von der Teheran-Konferenz für nicht weniger als für eine italienische Staatsbrügerschaft trennen will.
»Einem reichen Italiener, der sich selbst respektiert, sollte das Gemälde das schon wert sein. Es hat alles, was ein gelungenes Vadim’sches GroSoRe-Bild ausmacht: Monumentalität, Gedankenflug, weltgeschichtlichen Witz und die bissige Körnigkeit einer Asbestzement-Dachwellplatte«, reflektiert Pitirim.
»Pitirim …«
»Was?«
»Nimm mich mit nach Italien.«
»Nach Italien?«
» Sì. «
»Und was willst du dort machen?«
»Ich werde für dich dolmetschen«, sagt die
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