Zuckerleben: Roman (German Edition)
Arm, geht flotten Schrittes auf die Isidora zu, winkt den beiden, besteigt eine Leiter und klettert hinauf bis zur Plattform mit dem Kater. Dort legt er behutsam den Hahn ab.
»Was macht er da mit dem Hahn?«
»Das ist Trotzki. Vadims Lieblingstier hier in der Zuckerfabrik. Gibt ihm Inspiration …«
Trotzki starrt mit seinem kleinen, aber wohlgeformten Kopf neugierig nach oben zu Nadja und Pitirim. Er ist ziemlich dick.
Vadim der Maler zeigt auf die linke Brust seines Kunstwerks.
»Seht ihr – genau hier kommt noch eine Stellage hin. Ich werde sie gleich heute anschweißen. Sie wird wie angegossen hineinpassen! Die Brustwarze passt auch der Größe perfekt nach dazu. Dann wird Isidora komplett sein!« Begeistert streichelte Vadim den Rücken des fetten Katers auf der Plattform. »Das hier ist Esenin, der Kater; er schläft immer hier. Die Mäuse, die er fängt, isst er ausschließlich in Isidoras Schoß. So sind wir auf den Namen gekommen«, sagt Vadim der Maler und steigt mit einer rundlichen Stellage höher die Leiter hinauf, zu Isidoras Brust, während die Italienischlehrerin immer noch ganz von den Augen des weiblichen Monuments angetan ist.
»Wozu sind die Scheinwerfer da? Leuchten die?«
»Wir können später, wenn’s dunkel ist, Isidoras Augen mal einschalten, damit du’s auch siehst. Wir haben sie an Hlebniks Stromgenerator angehängt, deswegen leuchten ihre Augen auch nach Stromausfall. Die Isidora ist nämlich ein polyfunktionales Kunstwerk!«, bemerkt Tutunaru nicht ohne Stolz und geht wieder zurück in sein Gemach.
Er wartet, bis die Italienischlehrerin ihm folgt, legt einen Arm um sie und fragt, wann sie denn mit dem Italienischunterricht beginnen könnten.
Tutunaru lächelt das Mädchen an.
»Weißt du, Nadja, mir ist schon klar, dass es hier nach einem provisorischen Schlaflager aussieht. Aber ich agiere nach dem Vorsatz: ›Wenn du vorhast, wegzuziehen, mach es dir lieber nicht zu gemütlich, sonst ziehst du nie weg!‹ Deswegen habe ich mein Quartier in der Zuckerfabrik aufgeschlagen, hier auf Ebene 4. Da machst du auch täglich Sport mit dem Treppensteigen, sag ich dir. Die Zuckerfabrik-Atmosphäre inspiriert mich außerdem bei der Arbeit an meiner Fabel, weißt du … Alles in allem lebe ich hier in der Zuckerfabrik wie in einer Zigeunerromanze: Gleich nach dem Aufstehen sause ich hinunter, füttere Trotzki und schaue nach, ob es den russischen Klassikern gut geht und sie ihre Eier gelegt haben; dann unterhalte ich mich mit Roma Flocosu, trinke georgischen Tee, beobachte Vadim beim Malen seiner GroSoRe-Werke und verrichte das anstehende Tagwerk, den Schnapsverkauf. Und ich mache die Arbeit gerne und gewissenhaft, weil ich weiß, dass alles, was wir hier tun, unserem gemeinsamen Italien-Projekt dienlich ist. Und des Nachts steige ich in Ilytschs Schnaps-Tunnel hinunter, wo es fröhlich vor sich hin blubbert und gezuckert riecht. Manchmal bringt Ilytsch Kumpanen von sich vorbei, in den Tunnel, wenn’s ihm zu langweilig wird oder er Hilfe beim Destillieren braucht, meistens sind es Exzuckerfabrikarbeiter und Schwarzbrenner-Autodidakten aus der Gegend, die der Held der sozialistischen Arbeit seit Jahrzehnten kennt, wir nennen sie ›Ilytschs Samagon-Garde‹, kernige Kerle sind es, allesamt mit dunklen Traktoristenmützen und schwarzen Lederjacken bekleidet, handverlesen von Ilytsch und seinem Adjutanten Filimon dem Schweißer. Etwa zwei Dutzend von ihnen leben hier auf dem Gelände. Sie übernehmen auch die Bewachung der kompletten Zuckerfabrik, inklusive Hlebniks Datscha. Mit seiner Garde und seinem Adjutanten Filimon dem Schweißer plant Ilytsch den Aufbau des sozialistischen Schnapswerkes, das hier in der Zuckerfabrik nach unserer Abreise entstehen soll. Und jetzt weist der Held der sozialistischen Arbeit Ilytsch sie ein, seine Gardisten, in die Arbeit mit großen Mengen Alkohol und dem Aufbau einer autarken Soziostruktur. Ilytsch möchte nämlich in seinem künftigen sozialistischen Schnapswerk seine eigene Art des Sozialimus aufbauen, eine Art sozialistische Kommune, die keine Oblomowerei kennt und in der alle alles teilen und jedem alles gehören soll; eine sozialistische Kommune also, die ohne Neid, Profitgier und Geld nur zum Wohle ihrer Kommunisten existieren soll. Diese neue Gesellschaft und vor allem ihren Kern, der Samagon-Tunnel, in dem Wladimir Pawlowitsch tagtäglich das Opium des Volkes braut, gilt es vor dem Feind von außen zu verteidigen. In Ilytschs Tunnel
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