Zuckerleben: Roman (German Edition)
hinunterzusteigen ist deswegen für jeden seiner Gardisten eine Art Ehrerbietung. Darum kommen sie gerne. Manchmal sind da auch Frauen dabei, die um die begehrten Termine in Ilytschs Beischlafkalender streiten. Und da setze ich mich gern dazu, labe mein Ohr an ihren Unterhaltungen, beobachte sie bei ihrem Treiben, stimme die eine oder andere Ballade mit meiner Gitarre an, besinge die heldenhafte Destillationsarbeit des Wladimir Pawlowitsch, spiele mit Filimon dem Schweißer »Ziegenbock« und schreibe an meiner Fabel. So bekommen wir auch Hinweise, wer denn im Dondușenier Umland Interesse am Umtausch von Wertgegenständen gegen Samagon hätte, essen geräucherte Doktorenwurst, trinken Samagon-Tee, zünden ein kleines Feuerchen an oder tauschen einfach Nettigkeiten aus … Und wenn ich müde aus Ilytschs Tunnel in meine 4. Ebene hinaufsteige, unter dem mütterlichen Scheinwerferblick Isidoras, da fühle ich mich glücklich. Manchmal begleitet mich auch Felix Edmundowitsch, der Fuchs, der ist nachtaktiv. Aber für dich, Nadja, finden wir bestimmt auch was Schönes in Hlebniks Datscha, drüber in Ilytschs Trakt, wenn du möchtest … Und wenn du dir um deine Bezahlung Sorgen machst, das musst du nich! Wir werden dir den Italienischunterricht fürstlich vergüten, Nadja. Du kannst dein Honorar in Form von Schnaps, Zucker, Wertgegenständen, geräucherter Doktorenwurst erhalten oder einfach selbst Teil unseres Italien-Projekts werden, Kost und Logis inklusive.«
Nadja muss daran denken, wie Tutunaru sie in Corbu überredet hat, mitten in der Nacht ihre Sachen zu packen und mit ihm nach Dondușeni zu fahren, um ihm und seinen Freunden Italienisch beizubringen. Und sie, sie hat nicht lange gezögert, weil sie ohnehin nicht mehr in Corbu bleiben wollte, weil sie wusste, dass Mischa, einmal wieder nüchtern, sie schlagen und nicht mehr gehen lassen würde und dass sie im Prinzip nichts zu verlieren hat. Sie hat sich vergewissert, dass es Mischa gut ging, hat ihm noch einen Borschtsch gemacht und ist weggefahren, mit Tutunaru, einem Mann, den sie eigentlich nicht kannte.
Ich kann nicht mehr zurück.
Nadja sagt nichts.
Sie nimmt Tutunarus Arm von ihrem Körper und klappt ihren Koffer zu, obwohl sie weiß, dass sie nirgendwohin gehen kann. Sie nimmt den Koffer und macht ein paar Schritte mit ihrem Gepäck, aus Trotz und aus Wut auf sich selbst und auf ihre Hilflosigkeit.
Dann stellt sie den Koffer wieder ab.
»Ich kann nicht mehr zurück, Pitirim«, flüstert das Mädchen und fängt an zu weinen. Tutunaru nimmt die Italienischlehrerin in seine Arme und versucht sie zu beruhigen, mit dem Hinweis, dass ihr Mann Mischa sicher in Corbu auf sie warte, für sie da sei und sich um sie sorgen werde.
Dieser Hinweis beruhigt die Italienischlehrerin jedoch nicht.
Schluchzend erzählt sie Episoden aus ihrem Leben, die sich in Tutunarus Kopf zu folgendem wirren Familienbild zusammenfügen:
Nadjas Mutter Irina Pilipciuc stirbt bei der Geburt der Italienischlehrerin, wie das Tutunaru schon von Lawrow dem Sargmacher und von Protodiakon Derimedont gehört hat. Dann ist da noch Nadjas Großmutter, bei der sie aufwächst, und ihr Sovtransavto -Fernfahrer-Vater Zhora, der Nadja einmal im Jahr das immer gleiche maschinengetippte Glückwunschtelegramm mit dem Abbild der fröhlichen Zeichentrickfiguren Tscheburaschka und Krokodil Genadij schickt, die in ihren Pfötchen bunte Luftballons und Geschenke halten:
Meine kleine Nadja!
Wieder ist ein Jahr vergangen. Ich kann leider nicht bei dir sein, doch vergiss nicht, dass ich dich von ganzem Herzen liebe und immer an dich denke! Ich wünsche dir alles Gute, einen blauen Himmel, gute Gesundheit, schöne Errungenschaften und viel Freude und Glück in deinem neuen Lebensjahr!
Dein dich über alles liebender Papa.
Wahrscheinlich hat er das Telegramm für fünfundzwanzig Jahre im Voraus bezahlt, denkt Tutunaru.
Und da ist Mischa, Nadjas Bruder , wie Pitirim die diesbezügliche Aussage der Italienischlehrerin verwirrt zur Kenntnis nimmt. Weiter.
Mit Einbruch der Krise sieht Nadja keine Versdienstmöglichkeit mehr in Chișinău und zieht nach Corbu, in das Haus ihrer mittlerweile dahingeschiedenen Großmutter, bei der sie aufgewachsen ist, um sich zu erholen und um sich ein bisschen um Mischa, den Afghanistankriegsveteranen mit der Kontusion und dem Alkoholproblem, zu kümmern.
Stabswachtmeister Mischa.
Im nichtalkoholisierten Zustand schlägt Mischa Nadja und drängt sich ihr sexuell auf.
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