Zuckerleben: Roman (German Edition)
italienische Schüler macht seine Hose auf, holt sein bestes Stück heraus und fängt an, auf das Motorrad zu urinieren.
Dies scheint die Zuschauer im Agip-Laden und den Hells Angel schwer zu begeistern – der Mann mit Zwirbelbart ist komplett aus dem Häuschen und feuert Angelo sogar noch an. Klatscht in seine tätowierten Hände, in die Hells-Angels-Insignien und Sprüche wie AFFA (»Angels forever, forever Angels«), ACB (»All cops are bastards«), Flammen, Spielkarten, Würfel, ein Vers aus Dantes Paradiso und der Name ROCCO gestochen sind. Tolyan Andreewitsch kommt ohne Red-Bull-Dose aus dem Agip-Laden heraus. Spricht auf den italienischen Jugendlichen ein. Gleichzeitig stürmen die zwei Kanadier auf Tolyan Andreewitsch zu. Sie schreien und gestikulieren und drohen und schimpfen, auf Französisch. Angelo betrachtet verständnislos die zwei Touristen, die auf ihn zustürmen.
Cristinas Hells Angel stellt sich den Kanadiern in den Weg, verschränkt seine Arme vor der Brust und ruft Angelo zu, er solle weitermachen. Die Kanadier bleiben stehen und sprechen auf Englisch auf den Hells Angel ein. Ein englischer Redeschwall wechselt sich mit einem italienischen Redeschwall ab. Irgendwann mal scheint das dem Mann in der Lederkutte zu anstrengend zu sein, und da lässt er sich dazu herab, auf Englisch den deeskalierenden Vorschlag zu machen:
»Hey, stronzi , you have problem? I have gun.«
Stoisch schauen nun die beiden Kanadier Angelo zu, wie er auf ihr Motorrad uriniert.
Gleichzeitig kommt die über das ganze Gesicht strahlende Cristina zu Tolyan Andreewitsch, drückt ihm einen Kuss auf die Wange, bedankt sich, stellt ihm den Hells Angel mit Zwirbelbart als ihren Freund Rocco vor und teilt dem Moldawier mit, dass sie mit Rocco weiterfahren werde. Und nicht mehr mit ihm und Angelo.
Rocco schreitet indes auf den verstörten Angelo zu, gibt dem Jungen einen Klaps auf die Schulter, macht sich ein wenig über ihn lustig, weil er gedacht hat, Rocco würde ein Motorrad mit Seitenwagen fahren, und steckt dem italienischen Teenager eine Visitenkarte zu, auf der Roccos Name sowie die Adresse eines Tattoo-Salons in Termoli abgedruckt sind.
»Wenn du das nächste Mal in Termoli bist, komm auf ein Bier vorbei. Sì , Angelo?«
Dies getan, macht Rocco wieder kehrt, warnt im Vorbeigehen die beiden Kanadier, sollten sie Angelo auch nur ein Haar krümmen, würde er zurückkommen und ihnen beiden den Kiefer brechen, wünscht ihnen einen angenehmen Aufenthalt in den Abruzzen, winkt Tolyan Andreewitsch, steigt zusammen mit Cristina in einen dunklen Alfa Romeo und fährt mit quietschenden Reifen davon.
»Cazzo!«, schreit ihm Angelo hinterher und macht seinen Hosenbund wieder zu.
Die Zuschauer im Agip-Laden schütteln ihre Köpfe, versinken wieder in ihrem Tunnelblick und stellen sich wieder in der Kassenschlange an.
»Das ist also Rocco, der Typ, von dem Cristina das Kokain und die Beretta geklaut hatte?«
»Genau.«
»Und ich dachte, die Typen würden immer Motorrad fahren …«
»Das dachte ich auch.«
Angelo geht lässig an den beiden nordamerikanischen Touristen vorbei, sagt »Scusi, ragazzi« und erklärt ihnen, dass er gedacht habe, das Motorrad würde Rocco gehören, gibt ihnen den Tipp, ihr Fahrzeug durch die Agip-Waschstraße zu schicken, gesellt sich zu Tolyan Andreewitsch, der sich bereits eine Parliament zwischen die Lippen gesteckt, die Zigarette aber noch nicht angezündet hat, und zeigt in die Richtung, in die Roccos Alfa Romeo mit Cristina davongefahren ist.
»So ein Arschloch!«
Der Moldawier grinst.
»Entschuldige. Ich meine. Findest du das normal? Nachdem er sie vermöbelt und betrogen hat und sie so weit bringt, dass sie sich auf die Straße legt und sich eine Kugel durch den Kopf jagen will, fährt sie einfach mit dem Affen mit, als wär nie was gewesen!«
Angelo macht eine Pause, in der er energisch den Kopf schüttelt.
»Da soll jemand die Weiber verstehen …«
Tolyan Andreewitsch holt erneut seinen Geldbeutel hervor, nimmt daraus einen der rötlichen 500-Euro-Scheine, die ihm Cristina nach dem Unfall erst geklaut und dann im »Dolce della Luna« erst wiedergegeben hat.
»Da gibt’s nix zu verstehen. Schau, Angelo. Stell dir mal vor, Cristina kommt jetzt zurück und sagt dir, du sollst mit ihr mitgehen. Was würdest du dann machen?«, fragt Tolyan Andreewitsch und geht langsam auf die beiden Montréaler Jungs zu, die ihr Motorrad besorgt begutachten und sich untereinander auf Französisch
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