Zuckerleben: Roman (German Edition)
unterhalten, und bietet ihnen den 500-Euro-Schein als Entschädigung an. Der Montréaler, der sich vorhin die Füße im Waschbecken gewaschen hat, nimmt die EZB -Banknote entgegen, betrachtet die unbekannte Brücke auf dem 500-Euro-Schein mit viel größerer Begeisterung als das Porträt von Stefan dem Großen und Heiligen auf dem moldawischen 200-Lei-Geldstück zuvor, wirft seinem Kollegen einen fragenden Blick zu; jener erstrahlt ebenfalls enthusiastisch beim Anblick der langweiligen Brücke auf den 500 Euro und nickt: Die Kanadier sind mit der Reparationszahlung einverstanden.
»Da würd ich mitgehen«, ruft Angelo dem Moldawier nach.
Der Moldawier schüttelt den beiden soeben versöhnten Kanadiern die Hand und dreht sich wieder zu Angelo um.
»Eben, genauso wie Cristina mit Rocco mitgegangen ist.«
»Und was beweist das?«
»Liebe macht blind.«
»Ich find’s trotzdem scheiße.«
Etwa eine halbe Stunde später sitzen die beiden, Angelo und Tolyan Andreewitsch, im Restaurant der Agip-Tankstelle und warten auf ihr Essen.
Im Hintergrund ist eine lebensbejahende Tarantella der Mailänder Band Figli di madre ignota zu hören. Angelo sitzt schweigend da und spielt mit seinem Besteck. Dann sieht er den Moldawier an.
»Sag, diese Leute in diesem moldawischen Zuccherificio, von denen du erzählt hast. Die sind doch damals, 1991, aus ihrem Zuccherificio, ihrer Zuckerfabrik, verjagt worden, richtig?«
» Sì . Sind sie.«
»Haben sie dabei alles verloren?«
»Ja.«
»Die 40 Tonnen Zucker?«
» Perduti , verloren.«
»Die Villa?«
»Du meinst Hlebniks Datscha? Verloren.«
»Die Wertgegenstände?«
»Verloren.«
»Die Schnapsbrennanlage?«
»Verloren.«
»Der Schnaps? Die GroSoRe-Bilder? Die Doktorenwurstvorräte?«
»Alles verloren.«
Angelo schweigt einen Moment.
Ein Kaffeeautomat vibriert laut auf. Besteck klappert. Ein Sack Pommes wird in die Friteuse geworfen.
»Und wie haben die sich damals aus der Sache rausgeritten?«
WAS TUN?
1991. DONDUȘENIER UMLAND, REPUBLIK MOLDOVA
DICH HAT GOTT GEMACHT MIT ZWEI ARMEN, ZWEI BEINEN, EINEM KOPF, ZWEI OHREN, ZWEI AUGEN, EINEM MUND UND EINEM HAUFEN PROBLEMEN, NICHIFOR. UND ICH, ICH BIN DAFÜR DA, DIE PROBLEME ZU LÖSEN.
DER BULIBASCHA VON OTACI
Unabhängigkeit und Tante Agnieszkas Telegramm aus Krakau
Ilytschs ausgelagerte Schnapsbrennanlage. Abendstromausfall. Ein Lagerfeuer brennt. Vadim der Maler starrt in die Flammen.
»Am 7. November 1989 um etwa 7.30 Uhr finde ich mich vor der Republikanischen Klinik für ansteckende Krankheiten in Chișinău ein, um in den Kolonnen der Moldawischen Volksfront gegen die Sowjetführung zu protestieren. Vor uns: T -72-Panzer und Raketenfahrzeuge. Sie warten auf das Signal, die Militärparade anlässlich des 72. Jahrestages der Oktoberrevolution zu starten. Und wir von der Moldawischen Volksfront warten, dass etwas passiert. Aber es passiert nichts. Zeit vergeht und nichts geschieht. Es ist kalt und ungemütlich. Und nichts passiert. Irgendwann mal tritt aus der versammelten Menge eine Gruppe von etwa hundert Bürgern vor und bleibt stehen. Ich frage mich, was die da vorhaben. Und ob ich mich zu ihnen stellen soll oder nicht. Nach einigem Zögern entscheide ich mich dazu, in der Kolonne zu bleiben, weil ich mir sage: In der Masse ist man stärker. Und diese hundert Zivilisten, die aus den Kolonnen der Moldawischen Volksfront vorgetreten sind, gehen dann auf die Fahrbahn, wo die T -72-Panzer und die Raketenfahrzeuge hätten fahren sollen. Dort zünden sie Parastas-Kerzen an, um auf diese Weise ihren friedlichen Protest gegen die Militärparade kundzutun. Zusätzlich dazu rufen sie Slogans wie:
›Wir wollen ein besseres Leben, keine Panzer!‹ oder ›Wir wollen Lebensmittel, keine Raketen!‹
Es passiert wieder nichts.
Etwa sieben Minuten später erscheint vom hinteren Teil der Orhei-Straße eine Abteilung Druschinniks unter dem Kommando eines Hauptmanns. Ohne die friedlich mit ihren Kerzen protestierenden Zivilisten vorher zu warnen, schreit der Hauptmann auf Russisch ›Auf sie!‹ und alle etwa sechzig Druschinnik-Karatisten fangen daraufhin an, wahllos auf die versammelten Bürger einzudreschen. Ein Teil der Druschinniks schleppt ein paar der Zivilisten auf die andere Straßenseite, wo sie die Gesundheit der Protestierenden mit Schlagstöcken und Eisenstangen beschädigen.
Die zweite Gruppe Druschinniks attackiert zur gleichen Zeit die Passanten, die aus der Klinik für ansteckende
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