Zuckerleben: Roman (German Edition)
behalten soll.
Andreewitsch nickt, bedankt sich, sucht in seiner Geldbörse herum und holt ebenfalls einen Geldschein heraus.
»200 Moldovan Leis. › Lei ‹ means › Lions ‹. 10 Moldovan Lions are 1 Euro. Understand?«
Der Mann mit dem Fuß im Waschbecken sieht sich die moldawische Banknote ebenfalls interessiert an.
»Moldova is separatist region of Italy, yes?«
»No separatist, independent. But with very good connections in Italy. By minibus.«
»Okay. And this?«
Der Montréaler neben ihm deutet mit seiner Zahnbürste auf die Büste des schnauzbärtigen Moldawiers mit Krone, überdimensionalem Schwert an der Hüfte und einem in die Höhe gehobenen orthodoxen Kruzifix in der Hand.
»This: Stephen the Great and Holy. Moldovan King.«
»Good king?«
»Yes. Good king – Turkish, Tartars, Polish, Hungarians, Mongols, no problem: 49 battles, 47 victories, 1 remis.« Tolyan Andreewitsch überlegt sich kurz einen Vergleich, den die Touristen verstehen könnten, und fügt dem hinzu: »Like Rambo.«
»Like Rambo«, wiederholt der Kanadier mit der Zahnbürste und grinst. Der andere pfeift anerkennend, während er sich die frisch gewaschenen Füße mit den Socken abtrocknet, und fragt Tolyan, ob sie die Banknote behalten dürfen. Der Moldawier schenkt den kanadischen Jungs den Geldschein zum Abschied, wünscht ihnen einen schönen Aufenthalt in den Abruzzen und greift zum Trockner, ertastet an der Wand jedoch keinen. Als Andreewitsch im Anschluss auch keine Papiertücher ausmachen kann, geht er in eine der WC -Kabinen hinein, reißt sich dort ein Stück Toilettenpapier ab, trocknet sich damit die Hände im Gehen und verlässt die Sanitäranlagen.
Der WC -Dame im weißen Kittel, die es sich vor dem Klobereich auf ihrem Barhocker gemütlich gemacht hat, wirft Tolyan Andreewitsch eine 2-Euro-Münze auf den großen Pappteller, auf den sie mit rotem Nagellack den Spruch »Ab morgen unbestechlich« gepinselt hat.
Eine weitere Tür, und der Moldawier findet sich im Agip-Tankstellenshop wieder. Vor der Kasse eine Schlange.
Tolyan kann kein Red Bull ohne Zucker in den Kühlregalen finden und dreht noch eine Runde durch den Laden. Dann bleibt er vor einer Vitrine stehen, streckt sich und wirft einen Blick nach draußen. Durch die Glasscheibe des Agip-Ladens sieht er draußen Angelo. Angelo sieht wütend aus, er gestikuliert wild und redet auf Cristina ein. Cristina steht einige Schritte von Angelo entfernt neben einem gebräunten Italiener Ende dreißig, der sie umarmt. Cristina sieht glücklich aus und scheint den Mann zu kennen, was anscheinend der Grund dafür ist, dass Angelo umgekehrt proportional dazu unglücklich ist, Cristina den gebräunten Italiener umarmen zu sehen. Der Mann hat kurzes Haar, Silberringe an den Fingern, ist stark tätowiert und hat den gutmütig-jugendlich-seligen Gesichtsausdruck Diego Maradonas nach dem Kokainkonsum. Der gebräunte Italiener trägt ein ärmelloses weißes T-Shirt und eine Lederkutte. Auf der Lederkutte ist ein weiß-roter geflügelter Totenkopf angebracht; um den geflügelten Totenkopf gekurvt ein Top-und-Bottom-Rocker, in roter Schrift auf weißem Hintergrund: HELLS ANGELS ITALY . Der Hells Angel zwirbelt gut gelaunt seinen strähnigen Spitzbart und grinst Angelo an. Der italienische Schüler macht ihm sichtlich Spaß. Der Mann zieht Cristina zu sich und küsst sie auf den Mund; sieht dann Angelo herausfordernd an. Der sagt nichts. Stattdessen geht er zu einem Motorrad mit Seitenwagen, das mit zahlreichen Taschen mit bunten Flaggenaufklebern behangen ist, dem einzigen Motorrad, das weit und breit auf dem Parkplatz der Agip-Tankstelle zu sehen ist. Dann wirft er dem Hells Angel einen hasserfüllten Blick zu und tritt mit voller Wucht gegen das Motorrad. Einige Männer in der Schlange werden aus ihrem apathischen Tunnelblick herausgerissen, mit dem sie den Agip-Laden betreten haben, und beobachten mit Neugier und Schadenfreude das Geschehen draußen. Sie kommentieren die lustige Begebenheit und spekulieren über die Beweggründe des erzürnten Jugendlichen mit den Unbekannten in der Schlange, die sie einige Sekunden zuvor noch komplett ignoriert haben. Keiner von ihnen denkt daran, einzugreifen.
Der Hells Angel reagiert indes mit großer Begeisterung auf Angelos Aktion und kann sich vor Lachen kaum halten, was Angelo wiederum ein wenig aus dem Konzept bringt.
Der Junge tritt noch einmal auf das Motorrad ein, dann hält er inne.
Überlegt kurz.
Der
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