Zuckerleben: Roman (German Edition)
Krise entsprechend weniger. Grob geschätzt müssten es also in etwa 12 Goldbarren pro Jahr und in den fünf Jahren etwa 70 Goldbarren à 1000 Gramm sein, die Hlebnik sich zusammengespart und ›für schlechte Zeiten‹, wie er sagte, denn Kinder hatte er keine, auf die Seite gelegt hat. Als 1991 diese ›schlechten Zeiten‹ nun endgültig gekommen waren und die Zuckerfabrik von Dondușeni geschlossen werden musste, hat Hlebnik beschlossen, nach Amerika auszuwandern, und wollte seine 70 Kilogramm Gold mitnehmen. Zuletzt wollte der Zuckerfabrikdirektor zum Bulibascha, weil er Tudorel-Deomid Balmus um seine Hilfe beim Abtransport des Goldes bitten wollte. Tja. Und seither ist Wadim Wladimirowitsch Hlebnik, Vorsitzender des Nüchternheitskomitees des Rayons Dondușeni, Zweiter Sekretär des Rayonskomitees der KP d SU des Rayons Dondușeni und Direktor der rayonalen Zuckerfabrik von Dondușeni, von der Bildfläche verschwunden. Bis ihr ihn gefunden habt, in dem Ruderboot, tot …«
Stille.
Die drei Männer blicken das Medium erwartungsvoll an.
Lidia Iwanowna sagt eine Weile lang nichts.
Die Spannung steigt.
Selbst die Schattenmorellen werden nicht mehr angefasst.
Stille.
Dann Erleichterung: Die pensionierte Kommissarin für Lebensmittelindustrie des Rayonalen Sowjets Nord der Moldawischen Sowjetischen Sozialistischen Republik und Trägerin des Rotbannerordens Lidia Iwanowna Cernei nimmt den Bulibascha-Auftrag an und weist ihre Klienten an, einen anonymen Brief aufzusetzen, in dem sie beim Bulibascha die Rückgabe von Hlebniks Gaben inklusive dessen Goldbarren sowie von Vadims Bildern reklamieren sollen.
Abschließend bemerkt das Medium Lidia Iwanowna dazu:
»Innerhalb von vier Tagen meld ich mich bei euch. Derweil setz ich mich mit Hlebnik in Verbindung und streck meine Fühler aus, ob er mit der Sache einverstanden ist … Oder ob er lieber den Bulibascha von Otaci die Zuckerfabrik, seine Datscha und alles andere behalten lassen will. Ich werde euch von Hlebniks Entscheidung Bescheid geben.«
»Und warum sollte der Bulibascha darauf eingehen?«, wundert sich Filimon der Schweißer.
»Weil ihm Zuckerfabrikdirekor Hlebnik im Traum erscheinen wird, beginnend mit heute Nacht, jede Nacht, die ganze Nacht …«, antwortet das Medium Lidia Iwanowna, wirft einen Blick auf das 3-Liter-Einmachglas mit dem Hlebnik-Samagon und lächelt milde.
BULIBASCHA IN NOT
1991. OTACI, OCNIȚER RAYON, REPUBLIK MOLDOVA
Der Hlebnik-Spuk
Der Bulibascha von Otaci, Tudorel-Deomid Balmus, betrachtet mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel den kleinwüchsigen Landstreicher ihm gegenüber: gelbstichige, runzelige Haut bedeckt die ausgemagerte Physiognomie des schmuddeligen Roma, das Gesicht von Bartstoppeln überwuchert. Seine roten Augen sitzen wie scheue Bathyskaphe tief in ihren Höhlen, die Lider bewegen sich schwer und widerwillig, als wären sie dem Alkoholkoma nahe. Die Tränensäcke sitzen schlapp wie ein Hängebusen. Die Kleidung: vornehm. Der Geruch: eine Mischung aus Blätterkohl, Weizengrütze, defizitärem Parfum und frischem Urin. Der Bulibascha wendet sich von seinem Spiegelbild ab und stellt alarmiert fest, dass er sich wieder in die Hose gemacht hat. Unabsichtlich.
Nichts kann dem Bulibascha gegen sein Leiden helfen, keine Medikamente, auch keine homöopathischen Präparate oder Mittel der Volksmedizin. Selbst der Hypnose-Psychotherapie-Fernsehguru Kaspirowskij, den er nach großer Anstrengung hat ausfindig machen können, hat den Bulibascha mit dem Hinweis abgewiesen, er könne kein krankes Gehirn heilen. Und aufgelegt.
Seit vier Tagen hat der Bulibascha von Otaci kaum geschlafen, und seit vier Tagen macht er ständig ins Bett und verlässt seine EL-GITANO -Windmühle nicht. Es wird bereits gemunkelt in der Roma-Gemeinde über das mysteriöse Leiden des Bulibascha von Otaci, gar darüber, dass Tudorel-Deomid unheilbar krank sei und bald ins Gras beißen würde. Wilde Gerüchte machen da in seiner Mahala die Runde – ein Gerücht wilder als das andere. Und diese Gerüchte, die jeden Tag, an dem sie nicht entkräftigt werden, noch mehr an Fahrt gewinnen, haben bereits angefangen, Tudorel-Deomids Autorität in Otaci seriös zu untergraben. Bald werden seine Konkurrenten aus ihren Löchern herauskriechen, sich zusammenrotten und einen geballten Schlag gegen den Bulibascha wagen. Wie Bluthunde, die Schwäche und Krankheit bei ihrer bis dahin zu stark geglaubten Beute gewittert haben und nun zähnefletschend
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