Zuckerleben: Roman (German Edition)
Moldawischen Sowjetischen Sozialistischen Republik und Trägerin des Rotbannerordens Lidia Iwanowna Cernei betrachtet mit einem ernsten Gesichtsausdruck Filimons Foto. Darauf ist eine Gruppe Sowjetbürger aller Altersstufen zu sehen, die in festlicher Kleidung vor einer Kolchose mit dem Namen »Ilytschs Weg« posieren. Das Medium, das nach dem sowjetischen Volksparfum »Olympischer Teddybär auf dem Holzscheit« riecht, studiert aufmerksam das Gruppenfoto.
Filimon der Schweißer, Pitirim Tutunaru und Wladimir Pawlowitsch sehen ebenfalls gebannt auf das Bild.
Dann hält Lidia Iwanowna ihren Zeigefinger der Reihe nach über die abgebildeten Personen, von links nach rechts, fährt rhythmisch darüber und verkündet:
»Lebt. Lebt. Tot. Tot. Tot. Tot. Tot. Lebt noch, aber nimmer lang. Lebt. Lebt. Tot. Lebt. Tot. Im Sterben. Lebt. Lebt. Tot. Lebt …«
»Alles richtig!«, bestätigt Filimon der Schweißer und nimmt das zwölfte und letzte vom Medium fehlerfrei durchanalysierte Schwarz-weiß-Bild entgegen.
»Man muss eben üben, damit einem die Fähigkeiten nicht einschlafen.«
Als das Medium vorschlägt, nun die Todesursachen und die Todesumstände der Bürger auf Filimons zwölf Bildern zu bestimmen, versichern ihr die Anwesenden heftigst, dass das nicht nötig sei.
»Wie ihr wollt.«
Lidia Iwanowna steht auf, holt aus dem in einer Ecke der Sommerküche leiernden Kühlschrank ein Glas Schattenmorellen, verteilt sie auf drei kleine Dessertteller und serviert sie ihren Gästen, die sich bedanken und bereitwillig das Obst verspeisen, nachdem Pitirim Ilytsch und Filimon den Schweißer auf dem Weg zum Medium extra darauf hingewiesen hat, dass Lidia Iwanowna falsche Bescheidenheit nicht mag.
Der Held der sozialistischen Arbeit wirft einen schnellen Kontrollblick in die Tiefe von Lidia Iwanownas Sommerküche: Die Kanister mit dem Samagon, die Opfergabe an das Medium, sind fein säuberlich neben und das 3-Liter-Einmachglas mit dem Hlebnik-Samagon auf dem Kühlschrank abgestellt. Auf einem A 3-Blatt Millimeterpapier ruht ihr ausformuliertes Bulibascha-Bittgesuch zusammengefaltet in des Mediums Händen.
»Alles da«, konstatiert der Held der sozialistischen Arbeit beruhigt, spuckt den Kern einer Schattenmorelle dezent aus, legt ihn auf der Tischplatte ab und wartet geduldig auf das, was noch kommen soll.
Lidia Iwanowna blickt ihren Großneffen Pitirim fürsorglich an.
»Vor einigen Tagen ist der Corbulaner Protodiakon Derimedont mit einer Familienpackung Parastas-Kerzen hier bei mir gewesen. Er wusste nur Gutes über dich zu berichten und sagte auch, du hättest ihn zu mir geschickt. Das hat mich sehr gefreut. Und jetzt kommst du also selber … Tja. Ich habe euer Bittgesuch gelesen. Seltsam die Situation, seltsam der ganze Fall …«, spricht Lidia Iwanowna, setzt sich wieder an den Tisch und berichtet Pitirim, Ilytsch und Filimon dem Schweißer über ihre letzte Begegnung mit Zuckerfabrikdirektor Hlebnik, ohne das Bulibascha-Bittgesuch der drei aus den Händen zu legen.
»Hlebnik ist hier bei mir gewesen, bevor er nach Amerika abreisen wollte. Der hat mir damals vertraulich erzählt, dass er seit der Gorbatschow’schen Prohibition eine versteckte Schnapsbrennanlage im Tunnel seiner Dondușenier Zuckerfabrik betreibt. In regelmäßigen Abständen ließ er den Zucker dorthin bringen, zwischen 150 und 200 Tonnen Zucker pro Saison, und zu hochwertigem Samagon verarbeiten. Der Bulibascha von Otaci war Hlebniks Partner. Sie machten halbe-halbe. Zuckerfabrikdirektor Hlebnik selbst stellte das Produkt, die Technologie, die Lagerräume, die Transportmittel, seine Apparatschik-Protektion sowie seine Kontakte aus dem Rayonparteiaktiv zur Verfügung, und der Bulibascha von Otaci stellte die Leute, die dort arbeiteten, und organisierte mithilfe der Schwarzhändlergilde von Dondușeni über seine Kooperative EL GITANO SRL den Export des Schnapses ins Ausland. Seit Gorbatschows Bankreform durften sowjetische Kooperativen nämlich Teile der sowjetischen Produktion zu Weltmarktpreisen direkt ans Ausland verkaufen und das Geld auch bei ausländischen Banken anlegen, was der Bulibascha auch getan hat: Er legte seinen Anteil am Geschäft bei einer ungarischen Bank an. Doch Hlebnik war das alles zu unsicher: Er zog es vor, seinen Anteil in Gold anzulegen … Er erzählte etwas von 3 Goldbarren à 1000 Gramm, die er pro Quartal auf die Seite legen konnte – Mitte der Achtziger waren es mehr, in den letzten zwei Jahren mit der
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