Zuckerleben: Roman (German Edition)
pocht in seinem Kopf. Wie ein Betrunkener torkelt er am Minibus entlang, schiebt die Menschen zur Seite, keiner beschwert sich, sie lassen Tutunaru vorbei, und er, Tutunaru, kann nicht fassen, was er sieht.
Er hält Nadja in seinen Armen.
Die Sonne scheint und lässt das Blut, das überall zu sein scheint, erschimmern. Die Sonne. Die Sonne wirft ein weiches Licht auf Nadjas Gesicht. Und auf ihre Augen. Ihre haselnussfarbenen Augen glänzen, sie glänzen, als hätten sie lange nach Pitirim Tutunaru gesucht und würden sich jetzt freuen, ihn endlich zu sehen, zum letzten Mal zu sehen, und deswegen, nur deswegen, glänzen sie.
Tutunaru spricht und spricht und spricht auf Nadja ein. Aber das Mädchen sagt nichts.
Nadja liegt da und versucht.
Nadja versucht zu lächeln. Ihre Lippen bewegen sich, sie flüstert etwas. Leise.
Pitirim geht ganz nah an Nadja heran, er kann ihren Atem spüren. Ihr leises Flüstern. Ihre Stimme.
Pitirim nickt.
Mit letzter Kraft berührt ihre Hand seine Wange.
Erleichtert.
Pitirim fängt Nadjas fallende Hand auf, nimmt sie in die seine. Und küsst sie. Langsam gleitet Nadjas Kopf zur Seite. Der Glanz in ihren Augen ist verschwunden, als hätte er einfach von einem Moment auf den anderen beschlossen, des Mädchens Körper zu verlassen. Blut fließt aus Nadjas Mund über Tutunarus Hände. Es ist warm.
Zuckerleben
2011. IN DEN ABRUZZEN, ITALIEN
Es ist Samstag, der 23. Juli 2011. Das Begräbnis ist für Sonntag, den 24. Juli angesetzt.
15:30
Tolyan Andreewitsch bremst.
Angelo sieht ihn an, verwundert.
Der Moldawier deutet auf ein Mädchen, das allein am Rand der Strada Statale 83 nach Barrea steht. Es ist Cristina. Die Italienerin sieht verstört aus. Als sie Tolyan Andreewitsch und Angelo erkennt, huscht ein Lächeln über ihre Lippen.
»Ciao, ragazzi!«
Sie steigt in den Ford-Transit-Minibus ein.
Nach und nach erfahren Angelo und Tolyan Andreewitsch, was passiert ist.
»Rocco. Die Kanaille. Der hat mich wegen seiner beschissenen Beretta rausgeschmissen. Kann man denn so was glauben? Der Wichser … Und warum? Weil ich. Ich meine, ich hab ihm gesagt: ›Basta, Rocco. Hör jetzt auf, ständig über deine verdammte Beretta zu winseln, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt …‹ Und er schaut mich mit so einem kalten Lächeln an und fragt: ›Wieso, weißt du, wer’s war?‹ Und ich sage ihm: ›Wenn du wissen willst, wer sie geklaut hat, ich war’s. Und ehe du fragst: Ich hab sie auch nicht mehr, die Beretta. Sie ist bei so einem Serben, der jetzt wahrscheinlich auf dem Weg nach Serbien ist. Mit einem Priester.‹ Und da ist er schon erstarrt zu einem Holzklotz. Und ich schaue ihm in die Augen. In das Weiße seiner Augen und sage ihm: ›Und weißt du warum, Rocco? Willst du wirklich wissen, warum? Weil ich mich wegen dir erschießen wollte, darum. Weil du mich betrügst und nichts auf mich hältst und mich das ankotzt.‹ Und da flippt Rocco komplett aus. Er fängt an zu schreien. Quasselt irgendwas von Ehre und Vertrauen und dass er eine undankbare Natter an seinem Busen genährt hätte – mich. Und ich sage ihm: ›Wenn das alles ist, was du von mir hältst, dann kannst du mich hier gleich rausschmeißen aus dem Auto, Rocco. Und wir sind für immer ledige Menschen!‹ Und Rocco. Wie Zieten aus dem Busch klatscht er mir mit der flachen Hand eine in die Fresse, dass mir der Schädel dröhnt. Blafft mich auch noch an. Bleibt stehen. Schmeißt mich raus aus seinem Alfa Romeo. Zeigt mir den Mittelfinger. Und fährt mit quietschenden Reifen davon. Und dann habe ich anderthalb Stunden auf ihn gewartet, ob er zurückkommt und sich entschuldigt. Aber der ist nicht zurückgekommen. Der Rocco.«
Angelo gehen tausend Dinge durch den Kopf. Er will Cristina einiges fragen, aber er würde es am liebsten unter vier Augen tun, ohne Tolyan Andreewitsch. Verstohlen wirft er dem italienischen Mädchen einen Blick zu. Und Cristina. Cristina scheint nur Augen für Klein-Putin am Rückspiegel von Tolyan Andreewitschs Minibus zu haben. Klein-Putin schwingt zusammen mit einem zweiten Duftbaum, der nach Nadelwald riecht. Tolyan Andreewitsch blickt die Italienerin über den Rückspiegel an.
»Deine Tattoos. Hat Rocco die gemacht?«
»Hat er. So haben wir uns auch kennengelernt, in seinem Tattoo-Laden in Termoli. Ich bin am Anfang so oft ich konnte hingegangen, um ihn zu sehen. Und irgendwann mal hat er mich auch tätowiert, umsonst. Auch die Engelsflügel auf dem Rücken hat er mir
Weitere Kostenlose Bücher