Zuckerleben: Roman (German Edition)
Kohle ausbleibt, verschwinde ich einfach schnell mit der Hacke im Wald, und das Heizproblem ist gelöst!«
Die Stimmen sind im Hintergrund weiterhin vernehmbar, doch Tutunaru muss sich anstrengen, um auszumachen, wovon der Mann und Lyubotschka sprechen. Und deswegen blendet er die Geräuschkulisse aus dem Hintergrund einfach aus. Das geht sehr leicht von der Hand, und Tutunaru freut sich über seine Allmacht wie ein Kind. Den starken Geruch von Spiritus kann Tutunaru aber nicht loswerden, und so schwebt dieser weiterhin mit ihm über die Lagunenstadt. Tutunarus Yacht navigiert indes gekonnt durch Venedig; und das ohne sein Zutun. Die Luft duftet salzig nach Meer und Wassergräsern. Die Bürger spazieren in farbenfrohen Faschingskostümen und sind guter Dinge. Sie sehen wohlgefüttert aus und tragen qualitätvolle Kleidung. Nichts scheint sie in irgendeiner Weise zu beunruhigen. Gelächter. »Produkteknappheit scheint es hier eindeutig nicht zu geben. Auch stehen die Leute nirgends Schlange. Ich muss mir unbedingt den Weg hierher merken …«, geht es dem Dondușenier Spekulanten durch den Kopf. Tutunaru verspürt eine starke Anziehungskraft, die von jenem Ort in Italien ausgeht, und so beschließt er, hierher zu ziehen und alles andere stehen und liegen zu lassen.
Dieser Wunsch wird noch größer, als Pitirim Tutunaru von einem stechenden Schmerz aus dem Traum gerissen wird, und zwar in dem Augenblick, in dem Lyubotschka mit der Nadel in einen nicht anästhesierten Körperteil Tutunarus einsticht, um eine Wunde zuzunähen. Der Doktor nimmt seinen Mundschutz ab und setzt ein freundliches Lächeln zur Beruhigung seines Patienten auf, der die Augen aufgerissen hat.
Tutunaru blickt in dem OP -Raum um sich. Er sieht Kerzen verschiedener Größen, die ein romantisches Licht mit langen Schatten auf Lyubotschkas blutbefleckten Kittel werfen. Er nimmt das sinistre Lächeln des Doktors wahr und verliert das Bewusstsein. In seinem neuen Traum erscheint Tutunaru eine Datscha voller Zucker.
Hlebniks Datscha
DU BIST EIN TIGER, DU BIST EIN LÖWE, DU BIST EINE KATZE. DU KANNST DIE NACHT MIT EINER RUSSISCHEN FRAU VERBRINGEN, UND DIESE WIRD HOCHZUFRIEDEN SEIN. WENN HIMMEL UND ERDE AN RINGEN BEFESTIGT WÄREN, WÜRDEST DU DIESE RINGE ERGREIFEN UND DEN HIMMEL ZUR ERDE NIEDERZIEHEN.
ISAAK BABEL
Der Ewig Hungrige Historiker Roma Flocosu ( EHH R. F. ) irrt auf der abgeholzten Kotowski-Allee umher. Er ist auf der Suche nach Essbarem. Seine Sinne sind scharf, seine Blicke flink und sein Geist allgegenwärtig. Der Hunger hat aus ihm einen sehr toleranten Menschen gemacht. Früher hätte er es sich zum Beispiel nicht vorstellen können, mit unstudierten Leuten längere Gespräche zu führen oder gar mit einem historisch ungebildeten Konservenfabrikarbeiter eine Freundschaft einzugehen. Sein Freundeskreis bestand aus wenigen Absolventen des Instituts für Marxismus-Leninismus und einigen monarchistisch angehauchten Skeptikern des historischen Materialismus, die insgeheim die Wiedervereinigung Moldawiens mit Rumänien unter dem im Schweizer Exil lebenden König Mihai I. forderten. Mittlerweile fand Flocosu jedoch, dass jeder Mensch etwas Besonderes und Wertvolles sei, von dem man etwas lernen konnte. Diese Lektion verinnerlichte der Ewig Hungrige Historiker aber erst jetzt, zu Beginn der Neunzigerjahre, als in Dondușeni der unpopuläre Rubel als Zahlungsmittel weitgehend von der Doktorenwurst abgelöst wurde und er sich eingestehen musste, dass sein rotes MGU -Diplom bestenfalls fünf Kilo Doktorenwurst wert war.
Der EHH R. F. schlendert in der absoluten Dunkelheit des Après-Stromausfalls bis zum Ende der Kotowskaja, biegt links in den Lenin-Boulevard ein und geht einige Minuten auf den aufgebrochenen Betonplatten des Gehsteigs, bleibt stehen, lässt einen klapprigen 72er-Moskwitsch vorbeifahren und überquert die Straße. Der Ewig Hungrige Historiker findet sich auf einer Wiese wieder, die von einigen Kastanien und Eichen gesäumt wird. In der Dunkelheit kaum erkennbar erstreckt sich entlang der Bäume ein ungefähr zwei Meter hoher Maschendrahtzaun. Und das über mehr als einen halben Kilometer. Der Zaun weist an einer Stelle ein großes Loch auf, das bislang von einem Transformator verdeckt worden war. Der Akademiker zwängt seinen länglichen und dürren Leib durch das Loch und durchquert das von Gebüsch und Birnbäumen überwucherte Gelände der Brotfabrik, bis er vor einem ihm bekannten URAL -4320-Laster mit der großen
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