Zuckerleben: Roman (German Edition)
sie ist, die Zukunft vorherzusagen.
»Ist es also so weit.« Direktor Hlebnik runzelt die Stirn. »Wo?«
»Das spielt keine Rolle, das Resultat wird das Gleiche sein.«
»Sag es mir bitte trotzdem.«
»Wenn du das unbedingt wissen musst: Das Treffen wird in Weißrussland stattfinden, im nebligen Białowieża-Moorland unweit des Dorfes Viskuli.«
»Aha. Und was wird dann passieren?«
»Es wird ein Chaos ausbrechen, in dem die, die einstmals geeint waren, sich trennen und bekriegen werden. Und es wird Blut vergossen werden. Und nicht wenige wird es geben, die ihr Hab und Gut verlieren und Hunger erleiden werden. Andere werden zu Reichtum und Macht gelangen. Und sie werden sich ruchlos und ohne Mitleid bedienen. Und das werden diejenigen sein, die die Zeichen der Zeit richtig zu deuten vermögen werden.«
Direktor Hlebnik verdaut ein wenig die erhaltene Information. Dann ändert sich etwas in seinen Zügen, in seinen Augen blitzt etwas auf, bevor der Zuckerfabrikdirektor sie zu engen Schlitzen zusammenzieht.
»Bin ich einer von … ihnen ?«
Die pensionierte Kommissarin für Lebensmittelindustrie des Rayonalen Sowjets Nord der Moldawischen SSR und Trägerin des Rotbannerordens beäugt den Direktor der Zuckerfabrik von Dondușeni mit Mitleid und schüttelt leicht den Kopf.
»Du bist nicht einer von ihnen, Hlebnik.«
Auf des Diabetikers Stirn erscheinen einige Schweißperlen, doch Lidia Iwanowna nimmt weder darauf noch auf den gequälten Gesichtsausdruck des Zuckerfabrikdirektors Rücksicht und bedeutet ihm, das mit einem handgeknüpften moldawischen Wandteppich geschmückte Empfangsboudoir zu verlassen, da sie sich der Probleme der draußen Wartenden annehmen muss. Der Zuckerfabrikdirektor nimmt seine ganze Kraft zusammen, rafft sich schwerfällig vom Tisch auf, verabschiedet sich vom Medium mit Handkuss und Poklon und verlässt das Haus. Und genau in jenem Moment trifft Direktor Hlebnik die folgenschwere Entscheidung, die 40 Tonnen Zucker ihrem Schicksal zu übergeben und unverzüglich auszureisen. Direktor Hlebnik ahnt nicht, dass dieser Schritt die Bewohner Dondușenis dazu veranlassen wird, Jagd auf seine 40 Tonnen Zucker zu machen.
DOLCE DELLA LUNA
2011. In den Abruzzen, Italien
Cristina und Angelo
Es ist Freitag, der 22. Juli 2011. Das Begräbnis ist für Sonntag, den 24. Juli angesetzt.
22:46
Stille. Die zwei Teenager, die auf der Fahrbahn liegen, Cristina und Angelo, bewegen sich nicht. Der Ford Transit befindet sich im Bankett, regungslos und bedrohlich wie ein soeben erlegtes Großwild. Angelo horcht in die Nacht. Er kann lediglich Cristinas schweren Atem hören. Angelo öffnet die Augen. Die Staubwolke hängt noch in der Luft, als hätte sie das sadistische Verlangen, Cristina und Angelo, die soeben um ein Haar von einem Auto überfahren wurden, langsam zu ersticken. Angelo hustet. Noch benommen von dem, was soeben passiert ist, steht er auf und geht auf das Fahrzeug zu. Lehnt mit der Schulter an der Fahrertür. Als er seinen Kopf kurz nach links dreht, bemerkt er Cristina, die seinen Arm berührt. Sie ist blass. Ihre Hände zittern leicht. Angelo öffnet die Fahrertür. Ein etwa fünfundvierzigjähriger Mann liegt mit dem Kopf auf dem Lenkrad. Blut tropft aus einer auf den ersten Blick nicht auszumachenden Wunde. Angelo tastet nach dem Puls des Fahrers, kann aber nichts spüren. Angelo betrachtet stumm seine Hand: An seinen Fingern klebt Blut.
»Ich spüre keinen Puls«, sagt er leise, als hätte er Angst, einen Schlafenden aufzuwecken.
»Was? Was ist mit ihm?«
Cristina starrt Angelo mit ihren großen haselnussfarbenen Augen an. Zum ersten Mal kann Angelo etwas in ihren Augen erkennen, was er bei ihr noch nie zuvor gesehen hat: Angst. Blanke Angst.
»Er ist tot«, sagt Angelo.
Cristina stolpert einen Schritt nach hinten, vergräbt das Gesicht in ihren Händen und schluchzt leise. Ihre pechschwarzen Locken verdecken Hände und Gesicht.
»Ich hätte nie jemanden mit in die Sache reinziehen dürfen.«
Angelo wirft die Fahrertür zu, macht eine Runde um den Ford-Transit-Minibus, öffnet eine der hinteren Türen und steigt ein. Kommt heraus mit einem Plastiksackerl. Nimmt daraus eine gefüllte Semmel und beißt gierig hinein.
»Ein Mensch ist wegen uns gestorben … weil er uns nicht überfahren wollte. Und. Und du isst? Wie kannst du jetzt an Essen denken, Angelo?«
Angelo kaut konzentriert und mit viel Appetit, wie jemand, der seit mindestens zwei Tagen unfreiwillig hat
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