Zuckerleben: Roman (German Edition)
Junge.
»Lass uns doch gleich mit dem Auto in den Lago di Barrea hineinfahren. Bringen wir’s hinter uns«, flüstert das Mädchen.
Der Moldawier spürt ein Gefühl der Unruhe in sich aufsteigen.
Erst dann nimmt Tolyan Andreewitsch vom Alfa Romeo der Carabinieri Notiz, der mit eingeschaltetem Blaulicht, jedoch stumm, vor ihnen fährt. Darauf kann sich der Moldawier keinen Reim machen. Der Alfa Romeo bleibt an einer Abzweigung kurz stehen, macht ihnen ein Zeichen, dass sie nach links abbiegen sollen, und fährt geradeaus weiter Richtung Lazio.
Genau in diesem Moment reißt Tolyan Andreewitsch seine Augen auf, schmeißt sich über Cristina und packt Angelo mit einer blitzschnellen Bewegung bei den Hoden.
Dabei sieht der Moldawier dem Jungen direkt in die sich weitenden Pupillen, drückt die Geschlechtsorgane des Italieners ein wenig zusammen und sagt ruhig und bestimmt:
»Du hast genau zwei Minuten Zeit, um mir nachvollziehbar zu erklären, was du in meinem Auto machst, Junge.«
Es ist Samstag, der 23. Juli 2011 . Das Begräbnis ist für Sonntag, den 24. Juli angesetzt.
00:01
Vor Francesca Lombardo, an der Rezeption des »Dolce della Luna«, stehen drei Gestalten. Tolyan Andreewitsch, der sich eine frische Wunde oberhalb der Augenbraue mit einem nicht mehr frisch wirkenden Taschentuch abtupft, ein Junge, der aussieht, als wäre er die letzten paar Nächte von Wildschweinen gehetzt worden, und ein verstörtes Mädchen, das latent aggressiv und abwesend die Hotelmitarbeiterin mustert, als sei sie ein verramschtes Ausverkaufsobjekt auf einem Flohmarkt. Francesca ist rot im Gesicht und atmet schwer. Als sei sie gelaufen oder als hätte sie einen schweren Gegenstand über Treppen geschleppt. Oder beides.
»Haben Sie meine Teedose gefunden?«, fragt der Mann. Francesca sieht den Moldawier an, als würde er in einer Zwangsjacke vor ihr stehen und sich nach dem Verbleib von Cesare Borgia erkundigen.
»Sie erinnern sich doch, der Mann mit dem seltsamen Namen; Zimmer 12. Ich war vor einer Nacht hier. Ich habe da …«
»… eine Dose vergessen in Zimmer 12?«, beendet Francesca den Satz für den Moldawier unerwartet mit einem nervösen Lächeln.
»Genauso ist es. Und ich muss sie unbedingt wiederhaben. Ich weiß, das klingt abgedroschen, aber es geht um Leben und Tod.«
Es gab eine gute und eine schlechte Nachricht für den Moldawier. Francesca hatte bei der Erwähnung der Dose georgischen Tees ein wenig verstört gewirkt, ja, aber keinesfalls überrascht. Sie hatte die Dose auch tatsächlich gefunden. Die Teedose war höchstwahrscheinlich also noch da. Die schlechte Nachricht war aber, dass Francesca dem Moldawier nicht sagen konnte, wo sich die Teedose im Moment befand, sie versicherte ihm aber, dass sie sich bei ihrer Chefin, Signora di Garozzo, erkundigen werde und, sobald sie Näheres sagen könne, ihn unbedingt darüber informieren werde. Als der Moldawier sich bei Francesca erkundigte, ob er den derzeitigen Gast von Zimmer 12 sprechen könne, meinte sie, das sei schwierig. Er habe nicht ausgecheckt, sei aber auch nicht wirklich da.
Die Teedose musste also bis morgen warten. Jetzt sitzt Tolyan
Andreewitsch mit den beiden italienischen Jugendlichen im Zimmer, spießt mit der Gabel eine Tortellini und ein Stück Wurst auf und befördert beides in seinen Mund. Eines muss er ihr lassen: Francesca kann gut kochen, und das noch zu solch später Stunde. Obwohl ihm auch der Gedanke kommt, dass die Rezeptionistin alles getan hat, nur um das Trio schnell loszuwerden. All seine Anforderungen an ein Zimmer sind schweigend akzeptiert worden, und Francesca hat ihm sofort die Zimmerschlüssel ausgehändigt; sie wollte nicht mal einen Personalausweis sehen oder ein Check-in-Formular ausgefüllt haben.
»Warum sind wir in einem Dreibettzimmer? Drei Einzelzimmer wären besser. Jeder für sich. Hier ist es wie in einem Schlaflager. Nie von Privatsphäre gehört oder so?«, fragt Cristina.
»Keine Sorge, ragazza . Morgen kriegst du deine Privatsphäre. In einer Gummizelle.«
»Was?«
Tolyan Andreewitsch kippt mehr Parmesan über seine Nudeln.
»Kleiner Scherz. Heute Nacht bleiben wir hier. Morgen, gleich nach dem Frühstück, rufe ich eure Eltern an. Sie sollen euch abholen. Was ihr dann macht, ist eure Sache.«
»Meine Eltern sind tot«, sagt Cristina.
Stille. Betroffene Blicke.
»Das stimmt doch gar nicht, Cristina«, wirft der Junge ein.
»Für mich schon. Für mich sind sie tot. Nur Rocco ist meine
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